Portrait — Bertan Canbeldek

Jeder spricht Zirkus

Mit seiner neuen Show im Berliner Chamäleon hat Bertan Canbeldek seit Februar wieder alle Hände voll zu tun: Der Meisterjongleur widersteht dort jeden Abend der Schwerkraft. Für MYP schreibt der 26-Jährige exklusiv über die magischen Momente und Schmerzgrenzen des Zirkuslebens.

31. März 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Text: Katharina Weiß & Bertan Canbeldek, Fotos: Steven Lüdtke

Auf der Bühne stapeln sich Bierkästen und Kartons, die Konfettikanone lässt subtilen Glitzer auf die Szenerie regnen und ständig fliegt irgendein Körper in engen Jeans oder auch mal nur in Boxershorts durch die Luft: Die neue Zirkusshow FINALE im Chamäleon-Theater am Hackeschen Markt ist genau die Art von artistischer Kollektivleistung, die Berlin verdient hat. Pulsierende Flackerlichter, elektronische Beats und rotzig-rohe Stunts, die sich weniger der Hochkultur anbiedern, sondern eher die pure Energie einer urbanen, wild gemischten Jugend einfangen.

Bertan Canbeldek ist eines dieser Zirkuswunderwesen, die hier beinahe jeden Abend – und noch bis zum 19. August – vor Publikum mit ihrem Hausrat jonglieren oder von der Decke hängen. Der 26-Jährige, der in Kreuzberg geboren und aufgewachsen ist, absolvierte 2010 die “Staatliche Artistenschule“ in Berlin und tourt seitdem mit seiner Kunst durch die Welt. In der aktuellen MYP-Ausgabe beschreibt er, wie sich das Leben als Zirkusartist anfühlt.

Kurz bevor ich auf die Bühne darf, fühlt es sich so an, als würde für eine Sekunde die Zeit stehenbleiben. Ich atme einmal tief durch, die Vorfreude kitzelt an meinem ganzen Körper und ich trete ins Licht der Scheinwerfer. Es ist wirklich magisch: In dem Moment, in dem ich auf der Bühne stehe, fühlt es sich jedes Mal wie das erste Mal an. Das Adrenalin ist dabei der Helfer der Artistik: Wenn es in meine Venen schießt, kann ich einmal mehr alles geben. Um diese Leistung zu bringen – manchmal sind es acht Shows in einer Woche –, musste ich meinen Körper sehr gut kennenlernen. Ich weiß, wie ich ihn pflegen muss und wie ich reagieren sollte, wenn was im Rücken zwickt.

Als Artist tanzt und trickst man gegen die verschiedensten Widerstände an: Ich versuche, in einer Jonglage mit sieben Gegenständen der Schwerkraft zu trotzen und mit jedem neuen akrobatischen Trick die Grenzen der eigenen Körperlichkeit etwas herauszufordern. Ich erinnere mich an viele, viele Stunden, in denen ich in einer Ecke stand und wie ein Verrückter einen Trick wiederholte, von dem ich mir nie sicher sein konnte, ob ich ihn am Ende wirklich hinbekomme und jemals zeigen kann. Der Widerstand gegen die Stimme im Kopf, die einem zuflüstert: „Es ist ok, jetzt aufzuhören“, entscheidet oft über das Gelingen. Immer wieder treibt man sich an die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Die Techniken, um in diesen Momenten anfänglicher Frustration stark zu bleiben und diese Widerstände zu akzeptieren und zu überwinden, machen den Beruf eigentlich wirklich aus.

»Im Zirkusalltag ist der Spaß mindestens genauso wichtig wie die Disziplin.«

Im Zirkusalltag ist der Spaß mindestens genauso wichtig wie die Disziplin. Ich muss auf nichts verzichten – und kann auch mal am Tag vor einer Show auf eine Party gehen. Sich trotzdem nicht vollkommen gehen zu lassen, gebietet der Respekt vor dem Publikum: Wenn ich am Abend auf die Bühne gehe, dann ist es für mich selbst vielleicht die 34. Show. Aber für andere ist es das erste und einzige Mal, dass sie das erleben können. Etwa für den Papa, der mit seinen kleinen Kindern die Show besucht. Da wäre es einfach nicht angemessen, wenn ich nicht in Topform auf der Bühne stehen würde.

Dass ich mich heute Zirkusartist nennen kann – ein ungewöhnlicher wie schöner Beruf –, habe ich meiner großen Schwester zu verdanken. Ich komme nicht aus einer Zirkusfamilie. Meine Eltern sind türkischstämmige Berliner, wird sind fünf Kinder, ich bin auf den Kreuzberger Straßen groß geworden. Ich war ein eher schüchterner siebenjähriger Junge – und war deshalb ziemlich aufgeregt, als mich eines Tages meine Schwester unterm Arm packte, aus der Tür zog und sagte: „Du kommst jetzt mit in den Zirkus!“ Seitdem war ich gefühlt jeden Tag in der Manege. Zuerst lernte ich die Clownerie und das Zaubern, die körperlich herausfordernden artistischen Tricks kamen erst viel später.

Mit 14 schaffte ich es gerade so, an der „Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik “ in Berlin aufgenommen zu werden. Dort ist die artistische Ausbildung in eine normale Schulbildung integriert. Jeden Morgen um halb sechs musste ich aufstehen, um dann von Kreuzberg in die Greifswalder Straße zu fahren. An manchen Tagen ging der Unterricht bis 18 Uhr, das war körperlich irre anstrengend. Alles war sehr professionell dort, es gab die besten Übungsgeräte und eine spannende Gemeinschaft: Auf der einen Seite gab es die Ballettschüler mit ihrer disziplinierten Haltung, der ordentlichen Ästhetik und ihren strengen Diäten – und auf der anderen Seite gab es uns Zirkuskinder mit unseren bunten Klamotten und wilden Tricks.

»Unzählige charismatische Menschen haben etwas von ihrer Persönlichkeit in meinen Koffer gelegt.«

Seit meinem Abschluss sind bereits sieben Jahre vergangen und ich habe von Australien bis Israel in unzähligen Ländern mit Weltklasse-Artisten performen dürfen. Ich habe wilde Partys gefeiert und – innerhalb der Szene sowie am Rande meiner Reisen – unzählige charismatische Menschen kennengelernt, die alle etwas von ihrer Persönlichkeit in meinen Koffer gelegt haben. Ich war keinen Tag unglücklich. Dass ich bereits als Kind etwas finden durfte, dass mir Freude macht und später zu meiner täglichen Beschäftigung geworden ist, ist etwas ganz Besonderes.

Natürlich freue ich mich auch sehr, für die Dauer der Show mal für längere Zeit in Berlin bleiben zu können. Ich freue mich, meine Familie regelmäßig zu sehen oder einfach mal zu meiner Freundin nach Hause fahren zu können, anstatt immer nur mit ihr zu skypen, wenn ich unterwegs bin. Das tut schon gut.

»Unser Projekt heißt FINALE, weil jeder von uns ein Finale ist – wir alle sind gleichgestellt.«

Unser Projekt heißt übrigens FINALE, weil jeder von uns ein Finale ist – wir alle sind gleichgestellt. Und dahinter stehe ich zu einhundert Prozent. Einer der Gründer unserer Kompanie, Florian Zumkehr, hatte damals die Idee, der klassischen Artistik eine experimentelle Note zu verleihen. Weg vom Glamourösen der Bühne und hin zur roughen Attitüde der Straße. Einfach mal ein Holzbrett nehmen, damit experimentieren und herausfinden: Was kann man damit anstellen? Wie wir herausgefunden haben: so einiges!

Bei FINALE kann man sich voll und ganz wegträumen. Uns begleiten ein Live-Drummer und die Sängerin Ena Wild, die ebenfalls live singt. Als Performer bin ich total gelöst und frei innerhalb der Choreografie, dadurch fühlt sich alles natürlicher an und ich kann mehr improvisieren. In Prag haben wir bereits viel Beifall für diese moderne Art des Zirkus bekommen, jetzt sind wir gespannt, was das Heimatpublikum in Berlin sagt. Aber eigentlich bin ich da ziemlich zuversichtlich. Egal, vor welchem Publikum man auftritt: Jede Kultur findet eine Verbindung zum Zirkus. Der Zirkus kennt keine Sprachen. Jeder „spricht Zirkus“: Auf der ganzen Welt verstehen die Menschen intuitiv, was man ausdrücken will.