Submission — Emelie Kucharzik

Brief an die Sucht

29. November 2015 — MYP No. 19 »Mein Protest« — Text: Emelie Kucharzik, Foto: Nico Kaczmarczyk

It’s alright not to be alright.

Ich habe immer gerne Briefe geschrieben. Schreiben war lange meine einzige Möglichkeit, Gefühle auszudrücken und ehrlich zu sein. Meine Zuhörer waren die Buchstaben und die sich langsam füllenden Seiten, nicht eine Person – und das nahm mir Scham und Angst.

Diesen Sommer habe ich einen Brief verfasst, der es mir ermöglichte, ehrlich mir selbst gegenüber zu sein. “Hallo, ich bin Emelie und ich genese von atypischer Bulimie. ” Hinter diesem Satz stehen vier Jahre Ohnmacht und Verzweiflung, Geheimnisse und Lügen, Selbstverletzung und Tränen – aber auch Momente der Klarheit, in denen ich mir nah sein konnte und endlich gelernt habe, gut zu mir zu sein.

Und nach den Jahren, in denen ich alles mit mir selbst ausgemacht habe, habe ich das Bedürfnis laut zu sein. Ganz da zu sein. Und das ist mein Protest.

Mein Protest gegen eine Gesellschaft, die von unserem Selbstzweifel profitiert, in der Selbstliebe mit Egoismus verwechselt wird. In der man nie genügen kann. In der Schwäche und Gefühle keinen Platz finden. Das ist mein Protest gegen die oberflächliche Diskussion über Essstörungen. Es geht nicht nur um Models und Teenager, um Schlankheitswahn und Diäten. Millionen von starken und reifen Frauen wird die Stimme genommen, ihre Not auszudrücken, weil es niemanden zu interessieren scheint, welcher Druck auf ihnen liegt.

Und schlussendlich ist dies ein Protest gegen die Sucht in mir, der mir immer noch zu erzählen versucht, dass ich zu dick bin, um auf einem Foto gut auszusehen, und mir eh niemand zuhören will.
Hallo Sucht,

du hast vielleicht gemerkt, dass ich mich zurückgehalten habe, mich auf dich einzulassen. Der Abstand hat mir gut getan und ich merke, dass wir keine Chance auf Gleichgewicht in unserer Beziehung haben. Das nennt man dann wohl Abhängigkeit. Ich habe gelitten, habe viel aufgegeben – zu guter Letzt mich selbst.

Und doch, du hast viel für mich getan. Du warst für mich da und ich war immer willkommen, mit jeder Laune und jedem Problem; du hast mir wohlwollend die Tür geöffnet, hast mich eingeladen auf Kakao und zwei oder auch drei Tafeln Schokolade. Du warst für mich Rückzugsort und Schutzraum, und ich dachte, du wärst mein einziger Trost, meine beste Freundin.

Du warst Unterstützung, wenn ich mehr schaffen wollte, weil ich dachte, dann wäre ich auch mehr. Mit dir zusammen konnte ich mich Leistungsdruck und Perfektionismus hingeben. Ich konnte mich taub machen, so dass es keine Grenzen mehr gab, dass ich meine Erschöpfung und Müdigkeit ignorieren konnte. Und solange ich mich mit Essen beschäftigte, musste ich mich nicht mit meinen Ängsten und meiner Unsicherheit auseinandersetzen.

Wenn ich an „guten“ Tagen dem Hunger und der Rebellion meines Körpers standhalten konnte fühlte ich mich stark. Und dann war es Erlösung, nach Wochen der Anstrengung und des Kampfes gegen meinen Körper einfach loszulassen, bewusst die Kontrolle zu verlieren und mich taub zu machen, bis ich außer Benommenheit nichts mehr spürte. Ich hing so sehr an diesem Moment, in dem ich das Steuer loslassen konnte und nicht mehr dafür kämpfen musste, schlanker, interessanter, intelligenter, sportlicher, anders zu sein.

Zu genügen. Dieser Moment, in dem alles egal war – in dem ich mir aber zunehmend selbst egal wurde.

Doch in den letzten Wochen habe ich immer mehr gemerkt, wie überflüssig du wurdest, wenn ich achtsam und nachsichtig, liebevoll mit mir umgehe. Es waren nur Momentaufnahmen meines Kopfes in tauber Trunkenheit, die durch ewige Wiederholungen zu meiner instabilen Realität wurden.

Und wie viel habe ich geopfert für diesen bittersüßen Moment. Ich bekam Angst vor Dingen, die mich eigentlich erfüllten, mied Kontakte, weil ich mich als schlecht und ungenügend empfand. Und über allem hing dieses vergiftende Schamgefühl. Scham für meinen Körper und mein Verhalten. Du hast mich so weit gebracht, dass ich mich selbst als verabscheuungswürdig, ekelhaft und hässlich empfand; dass ich all mein Selbstbewusstsein, meine Lust und Leichtigkeit aufgab. Ich bin über meine Grenzen gegangen und habe zugelassen, dass andere über meine Grenzen gehen, weil ich nichts mehr gespürt habe. Ich wurde so verschlossen und unehrlich, und weil ich nicht für mich da war konnte ich auch nicht für andere da sein. Du warst eiskalt und hast nur drei Gefühle zugelassen: Verzweiflung, Scham und Selbsthass – und erst jetzt wird mir bewusst, wie anstrengend es war, alle anderen zu unterdrücken.

Ja, ich dachte, du seist meine engste Vertraute, aber jetzt nehme ich dich als unehrlich wahr, als heuchlerisch, selbstsüchtig und verbittert. Wie oft war ich wütend auf mich; habe gedacht, ich sei zu schwach, um es mit dir aufzunehmen. Aber jetzt ist da Wut auf dich, und hinter dieser Wut steht ganz viel Enttäuschung und Traurigkeit.

Ich brauche Zeit, um herauszufinden, was ich ohne dich sein kann. In den letzten Wochen habe ich neue Freunde gefunden, die eigentlich alte Freunde sind und die für mich dagewesen wären, hätte ich es zugelassen – Gefühle.

Ich werde Zeit brauchen, um zu lernen, welchen Weg sie mit mir einschlagen wollen. Sie wollen, dass ich mir vertraue, meine Grenzen und Bedürfnisse wahrnehme. Mit ihnen bin ich lebendig. Ich habe Empathie und Selbstliebe kennengelernt, Ehrlichkeit und Vertrauen. Ich vermisse das Gefühl von Unbeschwertheit, weiß aber, dass ich es wiederfinden kann.

Ich habe viel gegen dich gekämpft in den letzten Jahren, weil ich dachte, mit Disziplin und Willensstärke könnte ich dich loswerden. Doch es geht nicht um Loswerden, sondern um Loslassen. Und hiermit lasse ich den Kampf und die verzweifelten Kontrollversuche los und gebe zu, dass du deinen Platz in mir hast – und trotz der Wut und Enttäuschung bist du willkommen.

Ich will mich nicht mehr selb stverletzen und ich muss mir wohl eingestehen, dass ich das nur schaffen kann, wenn ich zulasse, dass du da bist. Ich werde lernen, was dein Verlangen nach Essen und Hungern in der Sprache der Bedürfnisse bedeutet. Ich werde dein Anklopfen ernstnehmen – als Weckruf, der mich in komplizierten Metaphern an meine Grenzen erinnert.

Ich brauche Platz für mich, für Selbstliebe, Akzeptanz und Freiheit, also wird dein Platz in mir kleiner werden, aber du darfst sein. Irgendwo bin ich auch zu Dankbarkeit verpflichtet, denn du hast mir Sicherheit und Schutz gegeben. Zwar nicht empfehlenswert, aber du bist auch nur ein Weg zu klarzukommen.

Und jetzt bist du mein lebendiges Gedächtnis an das, was ich nicht mehr will, und dafür bin ich dankbar.

Bis bald!

Emelie