Submission — Lukas Leister

Pauls Erbe

27. Oktober 2013 — MYP No. 12 »Meine Stille« — Text & Foto: Lukas Leister

»Ja?«

Paul wohnte noch nicht allzu lange hier draußen. Drei Wochen war es jetzt her, dass er seine Einzimmerwohnung mit bester Lage an der Hauptverkehrsstraße Wanne-Eickels leergeräumt und schließlich mit einer halbvollen Sporttasche verlassen hatte. Aus Geld, das bemühte sich Paul meist sich selbst gegenüber möglichst lässig und unbeeindruckt zu betonen, machte er sich wirklich nicht viel. Als ihn dann jedoch vor zwei Monaten die Nachricht von seinem unerwarteten Erbe erreichte, überlegte Paul nicht lange. Die Dinge, die ihn hier noch hielten, hätte Paul sowieso an zwei Händen abzählen können – die Personen an einer.

»Hallo?«

Das Haus seiner Großtante – oder wie er die ihm unbekannte Schwester seiner ihm unbekannten Großmutter auch immer hätte bezeichnen müssen – stand abgelegen am Rande eines kleinen Mischwaldes, fünfhundert Meter hinter dem nächsten Ortsschild. Weit hatte er es also nicht, falls er sich mal etwas besorgen musste. Mit dem Fahrrad, dass er sich demnächst irgendwo kaufen wollte, bräuchte er keine zehn Minuten bis zum nächsten Supermarkt. Mit dem Geld von Großmutters Schwester würde er locker zwei Jahre über die Runden kommen. Paul war soweit zufrieden. Nur das ständige Brummen der Motoren, das Hupen der Autos und die Zischgeräusche des anhaltenden Linienbusses vor seinem Fenster, woran er sich während seiner Zeit an der Wanne-Eickeler Hauptstraße so sehr gewöhnt hatte, fehlte ihm.

Egal an welches seiner nun unzähligen Fenster er sich auch stellte, sah und hörte er nur ganz selten den ihm vertrauten Lärm eines vorbeifahrenden Autos.

»Wer ist da?«

Um der Stille, die ohne Verkehrsgeräusche unumgänglich schien, zu entkommen, hatte sich Paul angewöhnt, den Fernseher gar nicht mehr auszuschalten. Früher hatte er ihn wenigstens manchmal zum Schlafen abgestellt. Hier drehte er, wenn überhaupt, die Lautstärke minimal herunter.
Als Paul nun mit dem Hörer in der Hand dastand, schaltete er ihn zum ersten Mal seit zwei Wochen aus, um zu hören, ob da am anderen Ende der Leitung jemand sprach, nur eben leise. Doch Paul hörte nichts. Sowieso wunderte er sich, wie das Telefon hatte läuten können, das noch genau so im Wohnzimmer seiner Großtante stand, wie sie es hinterlassen haben musste. Er hatte sicherlich keinen Vertrag verlängert oder abgeschlossen und würde den Teufel tun, die nächste Rechnung dafür zu zahlen.

»Hallo? Idiot!«

Paul knallte den Hörer auf die Station, blieb vor dem Telefon stehen und wartete, ob es nochmal klingeln würde. Doch nichts klingelte oder läutete. Nichts brummte, hupte oder zischte.

Paul setze sich wieder in seinen geerbten Sessel, nahm die Fernbedienung, drückte auf On und schaute fern.