Interview — Boris

Reduktion

Weltenbummler Boris kennt die Berliner Techno-Szene bereits aus Tagen, als sie noch in den Kin-derschuhen steckte. Der DJ spricht mit uns über New York, die Anfänge des Berghain und die Unmöglichkeit, dem Glück eine Dauer zu verleihen.

3. Mai 2014 — MYP No. 14 »Meine Wut« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Sonntag, den 26. Januar 2014, um 3:00 Uhr morgens. Wer seinen Blick gerade auf den Mann gerichtet hat, der in der Panorama Bar seit drei Stunden hinter dem Plattenteller steht, kann für den Bruchteil einer Sekunde beobachten, wie er seinen Kopf zur Seite dreht, die Augen schließt und dabei seinen Oberkörper leicht nach hinten neigt – als gäbe es da irgendetwas, das ihn halten würde.

In diesem Moment breitet sich unter seinem dunklen Bart ein Lächeln aus, das so anders ist als all’ die vielen Lächeln um ihn herum: Tiefer. Zuversichtlicher. Und geprägt von einem ganzen Leben.

Elf Wochen später auf der anderen Seite der Spree. Der Wind ist heute so wild und eisig, als läge Kreuzberg direkt an der Nordsee. Boris, so heißt jener DJ aus der Panorama Bar, steigt an der Oberbaumbrücke von seinem Fahrrad und begrüßt uns freundlich. Über eine kleine Zufahrt zwischen Watergate und Magnet Club schlendern wir gemeinsam in den Innenhof eines großen Gebäudekomplexes, wo sich trotzig zwischen kernsanierten Wohnungen und Büros ein altes Backsteingebäude befindet: Das Kesselhaus aus dem 19. Jahrhundert steht heute als Vereinsheim in der Obhut des Mindpirates e.V. – einem Verein und Kunstkollektiv, das sich seit 2008 durch sein vielfältiges Programm zu einer festen Größe des Berliner Kultur- und Nachtlebens entwickelt hat.

Wir steigen eine kleine Treppe hinab, öffnen die schwere Stahltür am Eingang und betreten den imposanten Innenraum des Kesselhauses: Unter einer knapp zehn Meter hohen Decke erstrecken sich zwischen Stahl und Stein drei Ebenen, die durch gewaltige Fenster mit bunt gefärbtem Glas erhellt werden. Man glaubt fast, in einer kleinen Kirche zu sein, wären da nicht die vielen Masken, Fotoprints und Kunstwerke, die das Innere des Vereinsheims der Mindpirates schmücken.

Nach einem kurzen Rundgang machen wir es uns auf der untersten Ebene gemütlich. Je nach Veranstaltung wird dieser Raum auch als Tanzfläche genutzt und so gibt es hier sogar eine kleine Bar samt Mini-Mischpult. Boris nimmt auf einem Hocker in der Mitte des Raums Platz, schaut sich neugierig um und lächelt uns an.

Jonas:
Du bist in den 60er Jahren in Neukölln aufgewachsen. Welche Bilder hast du im Kopf, wenn du an deine Kindheit und Jugend denkst?

Boris:
Da entstehen in meinem Kopf keine wirklich spektakulären Bilder: Wie alle anderen Kinder habe auch ich auf der Straße gespielt und bin ganz normal zur Schule gegangen. Außergewöhnliche Erinnerungen gibt es bei mir erst ab dem Jahr 1981: Ich hatte gerade die Schule abgeschlossen und wollte eigentlich studieren, doch dafür war mein Abi zu schlecht. Also habe ich ein paar Monate lang gejobbt und dann gemeinsam mit einem guten Freund beschlossen, drei Monate lang Sri Lanka zu bereisen. Wir wollten uns damals beide eine Auszeit gönnen und so weit wegfahren, wie es mit unseren finanziellen Mitteln nur möglich war. Wir hatten damals eine superschöne Zeit, das Land war einfach paradiesisch.
Als ich 1982 nach Berlin zurückkam, fing ich wieder an, in verschiedenen Jobs zu arbeiten. Lange hat es mich aber nicht hier gehalten und so bin ich Mitte 1983 nach Barcelona gezogen.

Jonas:
Warum gerade Barcelona?

Boris (lacht):
Weil ich mich verliebt hatte! Mein damaliger Freund stammte aus New York und war auf einer Rundreise durch Europa. Da er aber kurzfristig ein Stipendium für eine Uni in Barcelona erhalten hatte, habe ich mich entschlossen, mit ihm mitzukommen und dort Spanisch zu lernen.
Wir konnten beide bequem mit seinem 1.000 $ Stipendium leben, denn Barcelona war Anfang der 80er Jahre spottbillig, fast sogar billiger als Berlin. Vor den Olympischen Spielen war die Stadt weitgehend unsaniert – dunkel und fast verrucht! Und die Altstadt war noch eine richtige Altstadt.
Nach zehn Monaten musste mein Freund aber zurück nach New York. Da wollte ich natürlich auch hin. Also habe ich meine Koffer gepackt, die noch bestehende Wohnung in Berlin aufgegeben und bin schließlich 1984 zum ersten Mal in meinem Leben nach New York geflogen.

Jonas:
Ist es dir schwer gefallen, so plötzlich alle Zelte in deiner Heimatstadt Berlin abzubrechen?

Boris.
Nee, für mich war absolut klar: Ich zieh’ jetzt nach Amerika und das war’s.

Jonas:
New York war ja immer schon der Inbegriff von Sehnsucht.

Boris:
Und früher noch viel mehr als heute! Damals kannte man ja nicht so viel von der Stadt. Man wusste über New York nur das, was man mal in einer Zeitschrift gelesen oder im TV gesehen hatte. New York wirkte damals wesentlich geheimnisvoller als heute – es gab ja auch kein Internet, das es einem ermöglichte, mal eben virtuell die Stadt zu erkunden.

Jonas:
War New York damals nicht auch wesentlich gefährlicher als heute?

Boris:
Ich empfand New York nie als gefährlich. Natürlich passierte in dieser Metropole so einiges, aber das Image einer gefährlichen Stadt wurde auch sehr stark von den Medien gezeichnet. Und außerdem: Wenn man aus Berlin stammt, was soll da in New York noch wirklich gefährlich sein? Ich jedenfalls sah nie so aus, als würde ich aus einem Milieu kommen, bei dem es sich lohnen würde, mich zu überfallen.

Jonas:
Du hattest auch das extreme Glück, nicht alleine dort zu sein – in New York kann man sich schnell einsam und verloren fühlen.

Boris:
Stimmt, aber ich hatte nie wirklich ein Problem damit, die Stadt auch alleine zu erkunden. Außerdem hat es auch nur ein halbes Jahr gedauert, bis ich wieder in Berlin war: Mein Visum lief Anfang 1985 ab, ich musste also zurück nach Deutschland.

Jonas:
Hat es dich sehr geschmerzt, New York wieder verlassen zu müssen?

Boris (zögert einen Augenblick):
Hmm nein, eigentlich nicht. Es war damals natürlich schon ein absolut umwerfendes Gefühl, als 24jähriger Berliner nach New York zu kommen und plötzlich nur noch Hochhäuser zu sehen. Aber ich hatte in der kurzen Zeit ja auch nicht wirklich Fuß fassen können in der Stadt, weshalb es auch nicht schlimm war, wieder zurück nach Berlin zu gehen.

Jonas:
Da stehst du Anfang 1985 plötzlich wieder da…

Boris:
Ja, aber Berlin ist Gott sei Dank eine Stadt, in der man immer wieder neu anfangen kann. Vor allem damals war es noch eine totale Schneewittchen-Stadt im Tiefschlaf, in der man billig leben konnte und leicht einen Job finden konnte.
So habe ich bald angefangen, unter anderem in der Oranienbar zu arbeiten. Das hat mich für ein paar Monate über Wasser gehalten. Alles war damals neu in meinem Leben: neuer Job, neue Wohnung, neuer Mitbewohner – der hatte mich übrigens als einziger vorher in New York besucht, was ich sehr cool fand. So sind wir richtig gute Freunde geworden.
Mein Mitbewohner war es auch, der mich im September 1985 gefragt hatte, ob ich nicht Lust hätte, gemeinsam mit ihm über Weihnachten und Silvester wieder nach New York zu fliegen und dort richtig einen drauf zu machen. Natürlich habe ich ja gesagt.
Ursprünglich wollten wir nur drei Wochen bleiben, aber kurz nach Silvester haben wir feststellen müssen: „Es ist einfach viel zu geil hier, wir machen gerade die beste Cluberfahrung unseres Lebens!“ Also haben wir kurzerhand unseren Aufenthalt auf März verlängert.

Jonas:
Aber auch im März bist du nicht zurückgekommen.

Boris:
Nein, mein Kumpel ist zwar zurückgeflogen, aber ich fand’s viel zu aufregend und bin geblieben. Es hatten sich zu der Zeit auch einfach schon zu viele Dinge in meinem Leben manifestiert.

Jonas:
Wie meinst du das?

Boris:
Ich hatte Anfang 1986 bereits ein WG-Zimmer in Brooklyn – für sagenhaft billige 100 $ pro Monat! Außerdem hatte ich als Abräumer in einem Lunch-Restaurant gearbeitet und dort 250 $ in der Woche verdient, was zum Überleben absolut gereicht hat. Dadurch hatte ich in gewisser Weise ein geregeltes Leben. Außerdem hatte ich neue Freunde gefunden und konnte fließend Englisch. So ist Berlin in meinem Kopf immer weiter in den Hintergrund gerückt. Und so beschlich mich der Gedanke, dass ich ja vielleicht doch mehr oder weniger sesshaft werden könnte.

Jonas:
Sesshaft werden mit 24 Jahren? Das klingt dann doch eher etwas konservativ.

Boris:
Wir reden von sesshaft werden in New York! Das ist einfach eine Metropole, die um ein Vielfaches größer ist als Berlin und dementsprechend auch etwas anderes anzubieten hat. Um es in einem Satz zu sagen: New York ist eine Potenzierung von Berlin.
Übrigens meine ich mit sesshaft werden, dass ich ein Gerüst hatte, mit dem ich mich sicher fühlte und mein Leben genießen konnte: Ich konnte hier tausend Leute kennenlernen und alles mitnehmen – ohne zu denken, nur Besucher zu sein und bald wieder gehen zu müssen. Für mich war das eine optimale Basis.

Jonas:
Während andere in deinem Alter also bereits an Reihenhaus und Kinder gedacht haben, hast du in New York quasi in einem ständigen Jetzt gelebt.

Boris:
An Reihenhaus oder Kinder habe ich nie gedacht, so ein Leben auf Nummer sicher kam für mich einfach nicht in Frage – auch wenn ich im Jahr 1982 mal für einige Monate als Sachbearbeiter bei einer Krankenkasse gearbeitet hatte. Man wollte mich sogar übernehmen und bot mir 14 Monatsgehälter und flexible Arbeitszeiten an. Aber irgendwie wollte ich so ein Leben nicht.

1985 hatte man das Gefühl, alles sei irgendwie eingeschlafen.

Jonas:
Was wolltest du denn?

Boris:
Ich wollte mich nicht festsetzen, sondern Abenteuer erleben – auch in Bezug auf das Nachtleben. In Berlin war die Clubszene zwar Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre noch richtig aufregend, aber 1985 hatte man das Gefühl, alles sei irgendwie eingeschlafen.

Jonas:
Dafür bist du ja ab 1986 immer tiefer in die New Yorker Clubszene eingetaucht. Ist diese Zeit dafür verantwortlich, dass Musik einen so hohen Stellenwert in deinem Leben hat?

Boris:
Ganz allgemein bin ich bereits sehr früh mit Musik in Berührung gekommen, da ich mir schon als Jugendlicher diverse Schallplatten gekauft habe. Und seit ich 1980 angefangen habe auszugehen, kamen auch etliche 12-Inches dazu – ich mochte einfach Clubmusik sehr.
Tatsächlich gab es aber in New York einen berühmten Club namens Paradise Garage, der für mich absolut prägend war. Larry Levan, der dortige Resident-DJ, hat mich musikalisch und stilistisch sehr beeindruckt. Ich habe ihn drei Jahre lang fast jede Woche in dem Club gehört und würde ihn heute als so etwas wie meinen Mentor bezeichnen – obwohl ich ihn persönlich nie kennengelernt habe.

Alle Plätze in den Clubs waren besetzt – und DJ werden konnte man quasi nur, wenn ein anderer starb.

Jonas:
Ist damals in dir das Gefühl entstanden, dass du selbst eher hinter den Plattenteller gehörst als davor?

Boris (lacht):
Nein, das kam erst viel, viel später – noch befinden wir uns ja in den 80ern! Ich hatte eigentlich nie den Gedanken, DJ werden zu wollen. Zwar habe ich immer Musik gekauft und im Laufe der Jahre auch eine riesige Plattensammlung angehäuft, aber in New York hat sich mir eine solche Frage nie gestellt. Damals hatte jeder Club seinen festen Resident-DJ – diesen DJ-Tourismus, wie man ihn heute kennt, gab es da noch nicht. Es war daher so gut wie unmöglich, in diese kleine Szene einzubrechen: Alle Plätze in den Clubs waren besetzt – und DJ werden konnte man quasi nur, wenn ein anderer starb.

Jonas:
Du bist letztendlich in New York doch nicht sesshaft geworden, sondern nach gut vier Jahren wieder nach Berlin zurückgekehrt. Was war passiert?

Boris:
Ende der 80er haben in New York etliche Clubs geschlossen, auch die Paradise Garage. Es gab einen neuen Bürgermeister, der die Stadt gründlich umkrempelte und in gewissem Maße „säubern“ wollte. Es gab tiefe Einschnitte im kulturellen Bereich und man hatte plötzlich das Gefühl, dass hier gerade eine Ära zu Ende geht.
Zur gleichen Zeit passierte in meiner Heimatstadt Berlin etwas, das mich als Mauerkind persönlich sehr berührte: Durch den Spiegel konnte ich im September und Oktober 1989 erfahren, dass in Deutschland irgendwie alles in Bewegung geriet: Botschaften wurden besetzt, DDR-Bürger reisten über Ungarn in den Westen aus und alles geriet total ins Schwanken.

Jonas:
Hast du wenigstens den 9. November 1989 in Berlin erlebt?

Boris:
Nein, leider nicht, da war ich noch in New York. Ich habe im amerikanischen Fernsehen eine fünfminütige Reportage über den Mauerfall gesehen – mehr nicht. Gerade einmal fünf Minuten über das Ende des Kalten Krieges! Ich wollte jetzt unbedingt nach Berlin zurück. Innerhalb weniger Wochen habe ich daher meine Zelte abgebrochen und Anfang März 1990 New York den Rücken gekehrt.

Jonas:
Wie hast du deine Ankunft in Berlin erlebt?

Boris:
Meine Schwester hat mich mit dem Auto vom Flughafen Schönefeld abgeholt. Ich konnte das gar nicht glauben: Nirgendwo gab es Volkspolizisten. Und als wir im Auto saßen, sagte sie plötzlich: „Wir gehen jetzt Unter den Linden einen Kaffee trinken.“ Das war für mich unglaublich, ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es hat auch einige Wochen gedauert, bis ich mich an diese Situation gewöhnen konnte.

Jonas:
Und dann hast du in deinem Leben schon wieder neu angefangen.

Boris:
Ich hatte Gott sei Dank etwas Geld mitgebracht und konnte mich daher zuerst einmal in aller Ruhe umschauen. Über gute Freunde bin ich an einen Job in einer angesagten Bar gekommen und habe mich wenig später mit dem Besitzer angefreundet. Er hieß Marc Ernestus und hatte gerade den Plattenladen Hardwax eröffnet. Wir haben uns ewig über Musik unterhalten und ich habe ihm von meiner riesigen Schallplattensammlung erzählt, die ich bei meinem Umzug aus New York nach Berlin verschiffen ließ.
Marc hat mir das Angebot gemacht, ihm beim Sortiment zu helfen und die internationalen Bestellungen zu machen. Auch wenn ich dort anfangs nichts verdient habe, habe ich gerne zugesagt. So hatte ich plötzlich wieder mit Schallplatten zu tun – und als der Laden immer größer und anspruchsvoller wurde, wurde ich auch irgendwann bezahlt.
Aber der Ausschlag gebende Grund, warum ich letztendlich DJ geworden bin, ist ein sehr enger Freund von mir. Irgendwann im Jahr 1991 sagte er zu mir: „Mensch, du hast diese vielen Platten aus Amerika mitgebracht, du musst doch auflegen!“ Das war aber eigentlich überhaupt nicht so mein Ding. Also schlug er vor, dass wir das gemeinsam machen könnten, und ich habe ja gesagt. Wir sind dann mit unseren Plattenspielern und Mischpult in Schöneberg von Bar zu Bar gezogen und haben gefragt, ob wir dort musikalisch den Abend gestalten dürfen. Es gab dafür zwar kein Geld, aber wir konnten umsonst trinken und dabei unsere eigene Musik spielen.

Jonas:
Wie war die Resonanz?

Boris:
Das Ganze lief erstaunlich gut, wir haben wöchentlich in den verschiedensten Bars Musik gemacht. 1994 wurden wir sogar gefragt, ob wir im SO36 in Kreuzberg auflegen wollen. Damals gab es eine sehr angesagte Party namens „Hungrige Herzen“, die immer brechend voll war. Dort haben wir dann letztendlich 18 Monate lang alle vier Wochen aufgelegt, das war super!

Jonas:
Und dabei hat es angefangen, so richtig in den Fingern zu kribbeln?

Boris:
Klar, das hat damals einfach total viel Spaß gemacht – auch wenn es von Auftritt zu Auftritt ein Kampf war: Das SO36 war immer schon sehr alternativ, daher mussten wir uns an die Vorgabe halten, unsere House-Musik erst ab 2:00 Uhr aufzulegen – und vorher waren wir gezwungen, solche Sachen wie The Cranberries zu spielen.
Im Laufe der Monate hat sich das zeitlich aber immer weiter nach vorne verschoben. So durften wir irgendwann schon ab 1:00 Uhr und schließlich sogar ab 0:00 Uhr die Musik spielen, die nicht nur wir lieber mochten, sondern auch das Publikum.
Aber leider wurde Mitte 1995 das Führungsplenum des SO36 gewechselt. Da gab es plötzlich Leute, die relativ viel an uns rumzunörgeln hatten. Wir wurden in der Konsequenz nicht mehr gebucht und die ganze Sache ist eingeschlafen.

Jonas:
Wie ging es danach weiter?

Boris:
Zwei Freunde von mir arbeiteten damals in der Motzstraße in einer Schwulenbar namens Hafen. Sie erzählten mir, dass sie für ihre Schicht einen DJ suchen – und so haben wir kurze Zeit später dort gemeinsam den Donnerstag gestaltet. Bis 1999 habe ich vier Jahre lang jede Woche im Hafen aufgelegt.
Verglichen mit dem, was damals in Berlin clubmäßig los war, war das zwar nichts Großartiges, aber mit den angesagten Läden wie Tresor, E-Werk oder Planet konnte ich zu der Zeit eh nichts anfangen: Ich kam mit vollkommen anderen Musikvorstellungen und Erfahrungen aus New York, daher war mir diese neue Berliner Clubszene ziemlich fremd.

Ich glaube, ich bin damals einfach zu sehr in meinen New Yorker Erinnerungen versunken und konnte mich deshalb nicht auf die Clubszene hier einlassen.

Jonas:
Was genau hat dich daran gestört?

Boris:
Ich glaube, ich bin damals einfach zu sehr in meinen New Yorker Erinnerungen versunken und konnte mich deshalb nicht auf die Clubszene hier einlassen. Vielleicht war diese Einstellung auch ein wenig arrogant, wer weiß.

Jonas:
Eventuell hast du auch ein wenig die finanzielle Basis und den geregelten Job vermisst, die dir in New York eine gewisse Sicherheit gegeben haben.

Boris:
Ich habe Ende der 90er in Berlin tatsächlich wenig Geld verdient. Aber dafür bin ich meiner Leidenschaft gefolgt. Ob es jetzt die Arbeit im Hardwax war oder das Auflegen im Hafen: Ich kam einfach ständig mit Musik in Berührung.

Jonas:
Wahrscheinlich hätte dich auch alles andere unglücklich gemacht.

Boris:
Um ehrlich zu sein: Ein wenig unglücklich war ich schon, als unser Engagement im SO36 zu Ende ging und ich vier Jahre lang im Hafen jede Woche mehr oder weniger die gleiche Musik gemacht habe. Irgendwann habe ich mir daher einige Fragen gestellt: Was ist dieses Musikmachen eigentlich für mich? Ist das ein Hobby? Oder hat es vielleicht doch Potenzial für mehr? Soll ich damit überhaupt weitermachen? Oder das Ganze eher fallen lassen?
Ich saß total in der Klemme, denn ich konnte ja mit der Berliner Clubszene nach wie vor nichts anfangen – was ja die Grundvoraussetzung gewesen wäre, um hier professionell Fuß zu fassen. Aber dann ist glücklicherweise 1998 das Ostgut entstanden.

Jonas:
Ein legendärer Ort.

Boris:
Ja – und in gewisser Weise ein Persona non grata-Club.

Jonas:
Wie meinst du das?

Boris:
Das Ostgut lag in einem Gebiet, in dem es Ende der 90er keinen öffentlichen Nahverkehr gab. Man ist entweder mit dem Fahrrad hingefahren, hat ein Taxi genommen oder ging zu Fuß. Das war damals ein absolutes Niemandsland – stockdunkel und dazu noch hinter der Mauer.
Ich hatte aber erfahren, dass es im Ostgut eine Partyreihe names „Dance with the Alien“ gab, auf der der New Yorker DJ George Morel auflegte. Ich dachte mir: Wenn man pro Jahr fünfmal einen DJ aus New York einfliegen lässt, nur um ihn im Ostgut auflegen zu lassen, dann kann ich mich da ja auch mal bewerben. Also habe ich eine Mixkassette zusammengestellt und einem Freund zugesteckt, der damals an der Bar gearbeitet hat. Eine Woche später gab er mir die Kassette zurück – mit dem Kommentar, dass er sie nicht für gut genug hielt, um sie weiterzugeben. Das war’s für mich, alles in Scherben.

Jonas:
Die Sonne geht doch immer wieder auf, wenn sie mal untergegangen ist.

Boris:
Ja, aber es war trotzdem deprimierend. Jetzt hatte ich mal den Schritt gewagt, mich tatsächlich als DJ zu bewerben, und dann funktionierte es nicht. Aber wie das Leben so spielt, habe ich kurze Zeit später den Musikjournalist Thilo Schneider kennengelernt. Thilo schrieb damals für das Flyer-Magazin, das Ende der 90er ziemlich populär war. Und er war sehr fasziniert vom Ostgut – sogar so sehr, dass er den Betreibern angeboten hatte, sie beim Booking und der Künstlerauswahl zu unterstützen, was er dann auch tatsächlich zwei, drei Jahre lang getan hat.
Im Sommer 1999 kam Thilo im Hafen vorbei. Als er meine Musik hörte, sagte er: „Hey, du spielst ja einen echt coolen Sound, das hört sich richtig gut an!“ Sechs Wochen später rief mich einer der Ostgut-Betreiber an und erzählte, dass ihnen noch ein DJ für die Snax-Party im Lab fehlte. Und so stand ich im September 1999 zum ersten Mal dort hinter dem Plattenteller.
Nach meinem ersten Auftritt schauten die Betreiber vorbei und fanden es gut, was ich da machte. Sie erzählten mir, dass sie im Januar 2000 einen weiteren Floor namens Panorama Bar eröffnen wollen, und fragten mich, ob ich mir vorstellen könnte, dabei zu sein. Natürlich habe ich zugesagt! So fing vor 15 Jahren alles an – dank Thilo Schneider.

Jonas:
Hattest du nun das Gefühl, plötzlich alle Antworten auf die Fragen gefunden zu haben, die du dir noch kurz vorher gestellt hattest?

Boris:
Nicht plötzlich, aber die Antworten haben sich im Laufe der nächsten Monate immer stärker manifestiert. Zu Ostgut-Zeiten habe ich ja ausschließlich im Ostgut aufgelegt, da habe ich an ein Leben als hauptberuflicher DJ noch nicht gedacht. Und dementsprechend gab es damals auch noch keine Gedanken an eine Booking-Agentur – das kam erst mit dem Berghain, dem Nachfolgeclub des Ostgut. Seitdem wurde ich immer öfter von nationalen und internationalen Clubs angefragt und bin dadurch in den letzten Jahren ziemlich in der Welt herumgekommen.

Jonas:
Im Jahr 2003 musste das Ostgut schließen, weil auf dem dortigen Gelände die O2-Arena errichtet werden sollte. Wie hast du das Ende des Clubs erlebt?

Boris:
Das war für mich und viele andere Berliner der absolute Weltuntergang! Man muss wissen, dass das Ostgut von 1998 bis 2000 ein hartgesottener Schwulenclub mit marginalem Frauenanteil war, zu dem die neue Panorama Bar ab dem Jahr 2000 ein Gegengewicht darstellen sollte – softer, hedonistischer und mit etwas anderer Musik. Dadurch ist das Ostgut schlagartig zum hipsten Club Berlins geworden. Und es war der einzige Ort in der Stadt, an dem man bis in den späten Sonntagnachmittag feiern konnte.

Jonas:
Eine interessante Parallele zur Paradise Garage im New York der 80er…

Boris:
Stimmt, allerdings ging dort die Party nur bis 12:00 Uhr mittags und es gab keinen Alkohol. Wie bei der Paradise Garage dachte man aber auch beim Ostgut, dass es das Beste ist, was es in der Stadt gibt. Und so wurde der Club auf einmal überrannt, als irgendwann der Termin für den Spatenstich der O2-Arena feststand und damit das Ende des Ostgut besiegelt war.
Jeder wollte noch mitnehmen, was geht. Es hat sich damals ein regelrechter Kult entwickelt, die Leute haben sogar geweint.

Wir verlassen den kleinen Clubraum und steigen einige Treppenstufen zur zweiten Ebene hinauf. Das bunte Glas der riesigen Fenster kreiert gemeinsam mit der Stille eine sonderbare Stimmung in dem Raum: Fast andächtig ist es hier – und trotzdem farbenfroh.

Jonas:
Hat sich bei dir im Laufe der Jahre das Bedürfnis entwickelt, etwas Bestimmtes mit deiner Musik zu sagen? Oder ist das Auflegen für dich etwas, das rein aus deinem Gefühl heraus entsteht?

Boris:
Musik bedeutet irgendwie alles für mich, daher gibt es da bei mir einen gewissen Automatismus: Seit ich auflege, drücke ich mich auch emotional darüber aus. Ich spiele einfach, wie ich von innen her spielen will. Und egal in welcher physischen Verfassung ich bin, ob müde oder nicht müde –sobald ich hinter dem Plattenteller stehe, ist alles verflogen und die Energie da. Und dann versuche ich, mein ganzes Gefühlsspektrum und meine Gedankenwelt so über die Musik zu transportieren, dass die Leute das irgendwie annehmen, aufnehmen und verstehen können.

Jonas:
Hast du dabei nicht das Gefühl, dich vor deinem Publikum komplett zu offenbaren?

Boris:
Manchmal. Aber nicht immer.

Jonas:
Nimmst du bewusst wahr, dass du mit deiner Musik andere Menschen in gewisser Weise steuern kannst?

Boris:
Ja natürlich! Das wird mir durch das enorme Feedback bewusst, das mir die Leute geben. Es ist einfach schön zu wissen, dass man Menschen so tief in ihrer Gefühlswelt berühren kann.

Jonas:
Beflügelt dich dieses Wissen?

Boris:
Auf jeden Fall bestätigt es einen in dem, was man tut. Ich habe gemerkt, dass ich mit meiner Musik irgendwie in der Lage bin, einen ganz bestimmten Draht zu den Leuten aufzubauen.

Jonas:
Das klingt sehr bescheiden.

Boris schweigt.

Das Einzige, wo ich mich selbst nicht reduzieren kann, ist die Musik.

Jonas:
Ist dir Bescheidenheit wichtig im Leben?

Boris:
Ich würde jetzt nicht sagen, dass es mein Lebensmotto ist, aber ich finde es schon wichtig, dass man mit wenig auskommt und auch versucht, sich auf wenige Sachen zu konzentrieren.
Man sollte im Leben einfach versuchen, so wenig materialistisch wie möglich zu denken – das Einzige, wo ich mich selbst nicht reduzieren kann, ist die Musik.

Jonas:
Könntest du dir vorstellen, in deinem Leben auch etwas ganz anderes zu tun?

Boris (lacht):
Etwas anderes tun? Ich koche gerne – aber nur für Freunde, nicht professionell. Mit dem Kochen ist es bei mir übrigens wie mit der Musik: Ich experimentiere gerne und probiere viele neue Kombinationen aus. Deshalb mag ich auch das Berghain so sehr – ich kann dort einfach Dinge machen, die nur dort funktionieren. Das liegt zum einen an der Anlage und zum anderen an dem ganz besonderen Umfeld: Das Team, die Gäste und überhaupt die ganze Situation dort machen es möglich, dass ich genau das tun kann, was ich tue.

Es ist sowieso unnötig, irgendetwas festhalten zu wollen. Leider liegt es in der Natur des Menschen, sich zwanghaft an das zu klammern, was glücklich macht.

Jonas:
Würdest du sagen, dass das Berghain ein elementarer Teil deines Lebens ist?

Boris:
Ich fühle mich im Berghain absolut zuhause und sehr gut aufgehoben – daher möchte ich es nie missen. Aber alles geht ja irgendwann auch mal vorbei: Das Berghain geht vorbei, ich gehe vorbei – man kann nichts festhalten.
Es ist sowieso unnötig, irgendetwas festhalten zu wollen. Leider liegt es in der Natur des Menschen, sich zwanghaft an das zu klammern, was glücklich macht. Ich persönlich glaube aber, dass das der absolut falsche Blick auf’s Leben ist. Das Glück liegt eher in der Vergänglichkeit. Das macht es so wertvoll.

Boris schließt für einen Moment seine Augen, öffnet sie wieder und wirft uns einen festen Blick entgegen. Ganz langsam ziehen sich dabei seine Mundwinkel nach oben.

Da ist es wieder, dieses Lächeln, das schon vor elf Wochen so anders war als all’ die Lächeln um ihn herum. Würde er jetzt wie damals seinen Oberkörper leicht nach hinten neigen, man wüsste, was ihn halten würde – auch dann, wenn alles einmal vorbei geht.