Submission — Jakob Temme

Hallo Wut!

3. Mai 2014 — MYP N° 14 »Meine Wut« — Text: Jakob Temme, Foto: Roberto Brundo

Hallo Wut,

da wir uns schon länger nicht richtig begegnet sind, wollte ich mich mal melden. Ich glaube, unser letztes Aufeinandertreffen war, als dieser Polizist auf dem Kreuzberg in der Walpurgisnacht mir seinen Ellbogen ohne Grund in die Rippen rammte.

Unsere zufälligen Treffen sind jedoch sehr sporadisch und kurzweilig. Vielleicht ist Abstand aber auch nicht das Schlechteste. Manchmal frage ich mich, ob wir uns überhaupt schon mal richtig kennengelernt haben. Bin ich dir zu sehr aus dem Weg gegangen? Hätten wir uns aussprechen sollen? War ich dir gegenüber zurückhaltender als zum Beispiel dem Optimismus?

Wenn ich dann jedoch weiter über unsere Beziehung nachdenke und in mich reinhorche, merke ich, dass du in mir ruhst und immer ein Teil von mir sein wirst. Ich möchte dich auf keinen Fall vergessen oder verdrängen, denn ich weiß deine Eigenschaften sehr zu schätzen. Du kannst Kräfte in mir entfalten, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte.

Gerade fällt mir auf, dass du ab und zu doch sehr präsent bist. Und zwar dann, wenn ich merke, dass Menschen, die mir am Herzen liegen, lethargisch werden und beginnen, ihre Ausstrahlungskraft zu verlieren. In diesen Momenten kommst du ganz schnell
in mir hoch.

Bei Kleinigkeiten im Alltag komme ich sehr gut ohne dich zurecht. Man sieht sich dann wohl eher während bewegender Gespräche mal wieder.

So liebe Wut, genug der großen Worte. Ich hoffe, es geht dir gut und wir sehen uns bestimmt bald mal wieder. Vielleicht trifft man sich ja auch mal ganz bewusst auf einer Demo oder XYZ.

Und damit du dir keine falschen Hoffnungen machst, wollte ich dir noch sagen, dass ich meine ausgeglichene und optimistische Art als sehr angenehme Lebensabschnittsgefährtin empfinde und mir auch eine Zukunft mit ihr vorstellen kann.

Viele liebe Grüße!
(auch wenn du diese schnulzigen
Umgangsformen hasst)

Dein Jakob

P.S. Falls mal chronische Langeweile eintreten sollte, kannst du ja mal darüber nachdenken, Kurse anzubieten: „Wie bleibe ich im Hintergrund, ohne mich minderwertig zu fühlen“. Da könntest du deine Erfahrungen teilen, so von Wut zu Wut.