Interview — Left Boy

Was im Leben wichtig ist

Ferdinand Sarnitz alias Left Boy ist als knallbunte Stimmungskanone und Hipsterliebling bekannt. Im Gespräch mit uns stimmt der Österreicher ernste Töne an und erzählt uns, welchen furchtbaren Fehler er beinahe begangen hätte.

19. Januar 2014 — MYP No. 13 »Meine Sehnsucht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Ole Westermann

Es ist doch immer wieder schön, im Leben überrascht zu werden – vor allem wenn man dazu neigt, sich allzu oft im Berliner Stadtteil Mitte aufzuhalten und dem Glauben zu verfallen, man habe auf den hiesigen Straßen eh schon alles gesehen und erlebt, was im Leben von Bedeutung ist.

Zum Glück aber gibt es die Hausnummer 23 in der ehrwürdigen Münzstraße. Das denkmalgeschützte Gebäude gehört zu den letzten Repräsentanten der „Berliner Altstadt“ und konnte sich bis heute dem anhaltenden Bau- und Rekonstruktionswahn der deutschen Hauptstadt verwehren.

Wer diese Nummer 23 zum ersten Mal betritt, die Treppe bis zur Belle Etage aufsteigt und die schweren Türen zum sogenannten „Münzsalon“ öffnet, wird sein Staunen kaum verbergen können – denn der Blick fällt auf ein vollständig erhaltenes Kaminzimmer aus dem 19. Jahrhundert. Schwere Ledersessel, holzvertäfelte Wände und ein opulenter Kronleuchter sind so ziemlich das letzte, was man in einem Wohnraum im Szenestadtteil Mitte erwartet hätte. Wie erfrischend!

Mindestens genauso erfrischend ist, dass wir hier nicht auf gesetzte und Zigarre rauchende Altherren treffen, sondern auf einen sympathischen jungen Musiker, der es sich bereits in einem Nebenraum des Kaminzimmers bequem gemacht hat. Ferdinand Sarnitz heißt der gebürtige Wiener, der seit geraumer Zeit unter dem Namen „Left Boy“ die HipHop-Szene bereichert.

Ferdinand empfängt uns höflich und bietet uns einen Platz in einem der tiefen Sessel an. Dabei wirkt er ab dem ersten Moment so vertraut, dass man glaubt, man wäre mal eben bei einem guten Kumpel vorbeigekommen, um Hallo zu sagen. Gut gelaunt lässt sich der junge Musiker neben uns auf einem Sofa nieder und lehnt sich entspannt zurück.

Jonas:
Du bist bereits im Alter von 18 Jahren nach New York gezogen und hast dort über ein Jahr lang gelebt. Wie kam es zu dieser grundlegenden Entscheidung?

Ferdinand:
Ich habe in Wien eine amerikanische Schule besucht, auf der es üblich war, nach dem Abschluss ins englischsprachige Ausland zu gehen und dort zu studieren. Und so war plötzlich auch mein halber Freundeskreis nach Großbritannien oder in die USA verschwunden. Ich selbst wollte unbedingt nach New York – aber in erster Linie, um mal etwas anderes zu sehen und endlich alleine leben zu dürfen. Außerdem ging es mir darum, andere Musiker, Produzenten und Gleichgesinnte kennenzulernen, mit denen ich künstlerisch zusammenarbeiten wollte.
Um solchen Leuten zu begegnen, erschien es mir einfach als die beste Strategie, nach New York zu gehen. Dort habe ich mich am „Institute for Audio Research“ orientiert, wo ich an einem Tag der offenen Tür gleich auch einige interessante Menschen kennengelernt und mich an der Schule eingeschrieben habe.

Jonas:
Kanntest du in New York schon vor deiner Ankunft irgendwelche Leute? Oder bist du in Sachen Kontakte bei Null gestartet?

Ferdinand:
Gott sei Dank kannte ich hauptsächlich über meine Eltern einige Leute, die seit längerer Zeit schon in New York lebten und arbeiteten. Ich hatte also bereits den ein oder anderen Kontakt.

Jonas:
Da hattest du großes Glück – man kann in einer Stadt wie New York ohne jegliche sozialen Kontakte auch schnell verloren gehen.

Ferdinand:
Auf jeden Fall. Dieses Verlorengehen war dabei aber trotzdem ein großes Thema: Das erste Jahr in New York war für mich auch gleichzeitig das schwierigste Jahr meines Lebens. Ich habe mich zu dieser Zeit extrem einsam gefühlt.
Es gab zwar die besagten Freunde und Bekannten, aber die waren alle von morgens bis abends in ihre Jobs oder ihr Studium eingebunden. Und da mein Unterricht immer schon um 13 Uhr endete, habe ich den Rest des Tages nicht wirklich gewusst, was ich machen soll. In den ersten Wochen habe ich dann ständig irgendwelche Videospiele gespielt. Ich dachte, ich kann ja jetzt alles machen, was ich will, und fand das irgendwie lustig.
Verständlicherweise wurde das aber nach kurzer Zeit ziemlich langweilig, meine Einsamkeit wurde größer und größer. Dabei habe Ich mich aber auch nicht getraut, einfach in ein Café zu gehen und irgendwelche Leute anzusprechen und kennenzulernen – mit so etwas fühle ich mich nicht wirklich wohl. Zwar gab es auch in meiner Schule interessante Leute, aber niemanden, der schon aktiv im Musikbusiness unterwegs war und mit dem man hätte arbeiten können.

Jonas:
Du hast einfach früher als andere gemerkt, dass du in deinem Leben irgendetwas mit Musik machen willst.

Ferdinand:
Ja, das war mir tatsächlich sehr früh klar. Obwohl ich immer schon HipHop-Texte geschrieben habe, dachte ich anfangs noch, dass sich mein Leben eher in die DJ-, Beatbox- oder Breakdance-Richtung entwickeln würde.
Als aber im Jahr 2004 das Programm “GarageBand“ für Apple rauskam und ich mit 16 Jahren meinen ersten Track geschrieben und veröffentlicht hatte, veränderte sich plötzlich alles: Ich habe gemerkt, dass ich genau das machen will und nichts anderes. So habe ich begonnen, Beats und Loops zu produzieren, dazu erste Samples zu schmeißen und einfach über die Instrumentals drüber zu rappen.

Jonas:
Wie haben sich die Dinge in New York für dich im Laufe der Monate entwickelt?

Ferdinand:
Nicht gut. Ich konnte mich in New York einfach nicht etablieren, was ich als eine riesengroße Niederlage empfunden habe. Daher bin ich nach 18 Monaten wieder nach Wien gezogen. Dort wollte ich verarbeiten, was in New York passiert ist – und ich hatte mir geschworen, nun meine Zeit nicht mehr so leichtfertig zu verschwenden, wie ich es noch in New York getan hatte.
Im Nachhinein hatte ich auch das Gefühl, mich nicht ausreichend bemüht zu haben, um das zu erreichen, was ich erreichen wollte. Das hat mich ehrlich gesagt total fertig gemacht. Trotzdem würde ich sagen, dass die Zeit in New York – ebenso wie die Zeit danach in Wien – sehr wichtig für mich war. In Wien sind eine Reihe von Songs entstanden, die von meiner Einsamkeit in New York handeln.

Jonas:
Du könntest dich damit trösten, dass viele Leute zuerst einmal tief fallen, wenn sie so einen großen Schritt wagen wie du.

Ferdinand:
Das stimmt zwar, aber das lasse ich für mich nicht als Ausrede gelten: It’s what you make it! Wenn man sich nicht ausreichend bemüht, im Leben voranzukommen, dann wird man einsam und alleine irgendwo rumsitzen – nicht nur in New York. Das habe ich mittlerweile gelernt.

Jonas:
Dein Leben hat sich aber recht bald wieder zum Guten gewendet: Im Februar erscheint dein Debutalbum „Permanent Midnight“. Wie kam es zu diesem Albumtitel?

Ferdinand:
Ich habe den gleichnamigen Film gesehen – eine Tragikomödie, die auf dem weitgehend autobiografischen Buch des Autors Jerry Stahl basiert. Der Begriff hat sich ab der ersten Minute irgendwie in meinem Kopf festgesetzt.

Für mich bedeutet „Permanent Midnight“ Dunkelheit, Einsamkeit und Leere.

Jonas:
Der Begriff der ständigen Mitternacht erzeugt ja auch direkt diverse Assoziationen, wenn man ihn zum ersten Mal hört.

Ferdinand:
Absolut! Der Begriff passt einfach sehr gut zu den Songs, die ich jahrelang für ein eigenes Album zur Seite gelegt habe – Originalkompositionen, die wenige oder gar keine Samples beinhalten. Für mich bedeutet „Permanent Midnight“ Dunkelheit, Einsamkeit und Leere, die man irgendwann durch den ganzen Partyblödsinn, die Drogen und flüchtige Beziehungen empfindet.
Aber allgemein ist die Nacht auch diejenige Tageszeit, in der ich mich am aktivsten und produktivsten fühle. Daher könnte ich ebenso die Album-Produktionszeit als „Permanent Midnight“ bezeichnen – die Nächte habe ich regelmäßig durchgearbeitet.

Jonas:
Auch in der Lyrik erscheint die Nacht oft als die bedeutungsvollere und magischere Tageszeit – man denke nur an Kafkas Briefe an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus, dem er empfiehlt, sich selbst in der stillsten Stunde seiner Nacht die Frage zu stellen, wie tief sein Bedürfnis danach ist, Gedichte zu schreiben.

Ferdinand:
Die Nacht ist einfach die Zeit, in der man alles reflektiert. So passt sie auch auf hundert verschiedene Arten zu den Songs auf meinem neuen Album.

Jonas:
Du scheinst bei deiner Musik sehr viel Wert auf die visuelle Darstellung zu legen. Welche Bedeutung hat für dich diese visuelle Komponente bei „Left Boy“?

Ferdinand:
Für mich stehen die Musik, das Album-Artwork, die Musikvideos sowie die Website als gelichberechtigte Bestandteile meiner Kunst nebeneinander. Sie alle ergeben zusammen genau das, was ich ausdrücken will.
Es kann allerdings passieren, dass das eine oder andere davon in der Produktion und Fertigstellung etwas länger dauert. Das liegt daran, dass ich mich um alles intensiv kümmern will, um sicherzustellen, dass es auch meinen Qualitätsvorstellungen entspricht. Ich habe von Anfang an versucht, alles auf einem sehr hohen Level zu halten.
Ich finde, wenn sich jemand eines meiner Videos anschaut oder zu einem Konzert kommt und mir damit fünf Minuten bzw. eine Stunde seiner Zeit schenkt, dann hat er es auch verdient, dass ihm in dieser Zeit ein unvergesslicher Moment geboten wird. Wie ich bereits erwähnt habe: Ich möchte nicht mehr schlampig mit dem Faktor Zeit umgehen.

Jonas:
Woraus schöpfst du ganz allgemein die Inspiration für deine Arbeit?

Ferdinand:
Aus allem, was ich täglich erlebe. Meine Musik ist für mich wie ein Tagebuch – und ich verwende sie, um Gefühle wie Trauer oder Aggresion zu verarbeiten. Mit 16 Jahren habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass es sich auf eine seltsame Art und Weise gut anfühlt, wenn so ein Lied, das es vorher nur in meinem Kopf gab, plötzlich fertig vor mir sitzt. Das ist irgendwie befreiend.
Ich glaube, das liegt daran, dass ich mich mit Musik einfach besser ausdrücken kann als in einem persönlichen Gespräch. Denn mit Melodien und Beats kann ich meine komplexe Gefühlswelt wesentlich besser nach außen transportieren als mit Worten alleine.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie der 25jährige im einen Moment noch lustig ist und um keinen Spaß verlegen wirkt und gleich im nächsten Moment sehr ernsthaft und fokussiert werden kann, um seinen Worten die gebotene Schwere zu verleihen – wie ein Pendel, das in gleichförmiger Bewegung danach strebt, den Idealzustand zu erreichen.

Jonas:
Du lebst nach wie vor in Wien. Fühlst du dich dort auch künstlerisch zuhause?

Ferdinand:
Wien ist zwar meine Basis, wo meine Familie und all’ meine Freunde und Bekannten leben und wo ich mich auch einfach sehr wohl fühle, aber für meine künstlerische Arbeit ist jeder andere Ort auf der Welt geeigneter. Ich bin ein Mensch, der viel zu schnell abzulenken ist – und da in Wien dauernd etwas los ist und man von Geburtstagsparty zu Familienfeier springt, komme ich dort einfach nicht dazu, mich auf meine Musik zu konzentrieren.
Anders ist das beispielsweise in Los Angeles: Dort habe ich die nötige Distanz, um mich voll und ganz meiner Arbeit zu widmen.

Jonas:
Geht es dir in Los Angeles besser als in New York?

Ferdinand:
Das würde ich schon sagen, ja. Ich habe L.A. einfach für mich als idealen Ort entdeckt, um zu arbeiten und mich weiterzuentwickeln.

Jonas:
Könntest du dir trotzdem vorstellen, irgendwann wieder in New York zu leben und deinen Frieden mit dieser Stadt zu machen? Vielleicht müsst ihr beide euch nur noch einmal eine Chance geben.

Ferdinand:
Das kann ich mir auf jeden Fall vorstellen. Für mich ist es momentan aber das Wichtigste, bei meinem kleinen Sohn in Wien zu sein. Trotz der vielen Termine versuche ich, so viel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen. Vielleicht ziehe ich ja eines Tages gemeinsam mit ihm und seiner Mama nach New York. Oder nach L.A. oder Paris.
Aber eigentlich kann ich gar nicht soweit im Voraus planen. Zur Zeit komme ich einfach nicht weiter als die Woche, in der ich gerade bin.

Ich möchte versuchen, mich weiterzubilden und aus mir den besten Menschen zu machen, der ich im Rahmen meiner Mittel und Fähigkeiten sein kann.

Jonas:
In deinem Leben ist ja gerade auch genug los. Hast du trotzdem eine Perspektive, wie es mit dir nach der Veröffentlichung des Albums Mitte Februar beruflich und persönlich weitergeht?

Ferdinand:
Ich möchte versuchen, mich weiterzubilden und aus mir den besten Menschen zu machen, der ich im Rahmen meiner Mittel und Fähigkeiten sein kann. Für die Zeit nach dem Albumrelease habe ich mir fest vorgenommen, mich noch stärker auf andere Aspekte des Lebens zu konzentrieren: Es wäre toll, wenn ich mein Wissen und meine Fähigkeiten in den Bereichen Musiktheorie, Klavier und Tanz ausbauen könnte. Es gibt da einen schönen Satz, den ich mir gewissermaßen als Leitspruch für mein Leben gegeben habe: „Nie was man will, immer was wird.“
Mit diesem Gedanken gehe ich alles an. Denn egal, was ich in meinem bisherigen Leben geplant habe: Es ist so oft etwas absolut anderes passiert. Das beste Beispiel hierfür ist mein Sohn: Als meine Freundin damals schwanger mit ihm war, war ich total dagegen, dass sie dieses Kind bekommt. Ich habe in meinem Leben noch nie so falsch gelegen wie in diesem Moment, denn mein über alles geliebter Sohn ist das größte und wunderbarste Geschenk, das mir je gemacht wurde.
Dieser kleine Mensch kann mich mit einem einzigen Blick wieder fröhlich machen und mich inspirieren. Daher muss ich auch gar nicht unbedingt wissen, was die Zukunft bringt. Musik ist zwar ein riesengroßer Teil von mir, aber nicht das Einzige, was im Leben wichtig ist.

Ferdinand wirkt gerade sehr ernst. Für einen Moment hält er inne und sortiert seine Gedanken. Nach einigen Sekunden der Ruhe formt sich sein Mund immer mehr zu einem breiten Grinsen: Energiegeladen springt der Wiener Musiker auf und lässt sich in den alten, holzvertäfelten Räumen in jeder noch so erdenklichen Pose fotografieren.

Als alle Bilder im Kasten sind, verabschieden wir uns und schließen hinter uns die Türen zum altehrwürdigen Münzsalon. Mit einem Lächeln verlassen wir Hausnummer 23 und spazieren noch eine Weile durch Berlin-Mitte.

Es ist doch immer wieder schön, im Leben überrascht zu werden.

Vor allem, wenn es so angenehm ist.