Interview — Zimmer90
»Jeder Mensch sollte ab und zu mal in sein Innerstes abtauchen«
Mit »Interior« hat das Indie-Pop-Duo Zimmer90 gerade sein lange erwartetes Debütalbum veröffentlicht. Für die Freiburger Band ist die Platte nicht weniger als das Ergebnis einer tiefgreifenden Erforschung der eigenen Seele, übersetzt in zehn Tracks und eine dicke musikalische Umarmung. Ein Gespräch über ein Debütalbum als Safe Space, alte Gemälde, die an neue Songs erinnern, und die Frage, warum es wichtig ist, sein eigener Freund zu sein.
6. November 2025 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Die Welt ist ein ständiges Zuviel. Laut einer aktuellen Erhebung mit dem knackigen Titel »Stress-Studie« fühlt sich etwa die Hälfte aller Deutschen gestresst. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Die Angst vor Kriegen und politischen Krisen kann in einem Menschen genauso Stress auslösen wie die mangelnde Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben, finanzielle Probleme oder die klimabedingte Zunahme von Naturkatastrophen.
Dabei kennt Stress kein Alter: Der kürzlich erschienene »Präventionsradar 2024/2025« einer deutschen Krankenversicherung kommt zu dem Ergebnis, dass knapp zwei Drittel der befragten Kinder und Jugendlichen über häufige Erschöpfung klagen.
Ganz ähnlich erging es auch Finn Gronemeyer und Joscha »Josch« Becker, den beiden Köpfen hinter der Indie-Pop-Band Zimmer90: »In der Welt, in der wir leben«, schreiben sie im Booklet ihres gerade erschienenen Debütalbums, »sind wir einer permanenten Überstimulation ausgesetzt und abhängig von ständiger Bestätigung von außen.«
An dieser Reizüberflutung sind die beiden jungen Männer allerdings nicht ganz unschuldig: Nachdem ihre Single »What Love Is« Ende 2023 auf TikTok zu einem viralen Hit wurde, explodierte der Erfolg der Band regelrecht. Wenige Monate später starteten Zimmer90 in eine ausverkaufte Europa-Tournee mit Konzert-Debüts in Amsterdam, Paris und London, im November 2024 folgte die erste USA-Tour.
Wie sich Finn und Josch dem ganzen Stress entziehen konnten, erklären sie ebenfalls im Album-Booklet: »Wir haben Klarheit gefunden, indem wir nach innen geschaut haben. Dieses Album zu erschaffen war eine Möglichkeit, uns selbst besser zu verstehen – und anderen etwas zu bieten, mit dem sie sich ebenfalls identifizieren können.« Oder um es mit Marc Aurel zusammenzufassen: »Blicke in dein Inneres! Da ist die Quelle des Guten.«
Kein Wunder, dass die beiden ihr erstes Studioalbum »Interior« genannt haben. Und ebenfalls kein Wunder, dass sich diese Platte anfühlt wie eine dicke musikalische Umarmung. An einem sehr entspannten, sonnigen Septembernachmittag haben wir Finn und Josch in Berlin zu einem kleinen Plausch und Photoshoot getroffen.

»Da bleibt keine Zeit, gemeinsam ein Bier zu trinken und die letzten Jahre zu reflektieren.«
MYP Magazine:
»120 Shows, 17 Länder, 30 Städte« – im Booklet Eures neuen Albums fasst Ihr so die letzten beiden Jahre zusammen. Wie ist es Euch in dieser Zeit ergangen? Und wie geht es Euch heute?
Finn:
Momentan fühlen wir uns einfach platt. Das neue Album ist gerade erst erschienen und die Tage sind so voll, dass wir abends direkt ins Bett fallen und versuchen, so viel wie möglich zu schlafen. Ganz ehrlich: Da bleibt keine Zeit, gemeinsam ein Bier zu trinken und die letzten Jahre zu reflektieren. Dennoch kann man festhalten, dass diese Jahre ziemlich intensiv für uns waren, auch weil wir zum ersten Mal außerhalb Deutschlands und sogar außerhalb von Europa auf Tour waren.

»Man kann das nicht einfach so einfach abschütteln.«
MYP Magazine:
Auf Instagram habt Ihr zur Veröffentlichung Eures Debütalbums geschrieben: »In gewisser Weise markiert dieses Album das Ende eines Kapitels.« Öffnet so ein erstes Album nicht eher etwas, als es zu beschließen?
Finn:
Als das Album am 19. September um Punkt null Uhr online ging, fühlte es sich an, als wäre eine enorme Last von unseren Schultern gefallen. Wenn man an einem so großen Projekt über einen längeren Zeitraum arbeitet, kann man das nicht einfach so einfach abschütteln. Man trägt das ständig mit sich herum. Insgesamt haben wir an »Interior« über ein Jahr lang geschrieben und produziert. Ich bin sehr stolz auf dieses Album und super happy damit, wie alles zustande gekommen ist. Aber ich muss auch sagen: Ich bin echt froh, dass dieser Prozess nun ein Ende gefunden hat und es wieder Platz gibt für etwas Neues.
Joscha:
Das sehe ich genauso. Endlich ist da wieder Freiraum, um neue Sachen auszuprobieren. Gerade in den letzten Wochen einer Albumproduktion geht es nur noch darum, an Kleinigkeiten zu arbeiten, alles auf den Punkt zu bringen und abzurunden. Das ist so ziemlich das Gegenteil von frischer Kreativarbeit, bei der man sich darauf konzentrieren kann, neue Songs zu schreiben.

»Man muss das Touren und Schreiben nicht wie Schwarz und Weiß voneinander trennen.«
MYP Magazine:
Ihr habt an diesem Album sogar geschrieben, als Ihr auf Tour wart. Im Musikgeschäft ist das eher ungewöhnlich.
Joscha:
Stimmt. Allerdings gab es auch viele andere Situationen, in denen wir am Album arbeiten konnten. Mal waren wir für ein, zwei Wochen in Frankreich, in einem Haus mitten in der Natur. Mal waren wir in unserem Studio in Freiburg. Mal waren wir in Berlin. Diese besonderen Ruhepunkte, an denen wir uns vollkommen auf die neue Musik konzentrieren konnten, hatten wir auf Tour natürlich nicht. Dennoch war es eine gute Erfahrung. Auch wenn viele das Gegenteil behaupten: Man muss das Touren und Schreiben nicht wie Schwarz und Weiß voneinander trennen. Man kann diese beiden Welten tatsächlich verweben.
»Das noch unfertige Album fühlte sich wie ein kleines Stück Zuhause an, in das wir uns immer wieder zurückziehen konnten.«
MYP Magazine:
In dem eben erwähnten Instagram-Post erklärt Ihr außerdem, dass es Euer Anspruch war, mit den Album einen Safe Space zu schaffen. Welches Bedürfnis steckt dahinter?
Finn:
Für uns ist es immer schön zu hören, dass Menschen, die unsere Songs hören, sich damit emotional verbinden können. Gleichzeitig ist es so, dass wir immer erst bei uns selbst anfangen, wenn wir an neuer Musik arbeiten. Für uns ist es superwichtig, dass wir das, was wir schreiben und produzieren, erst mal intern an einen Punkt bringen, an dem es sich für uns gut und richtig anfühlt – auch wenn das manchmal ein sehr langer Prozess ist. Die Außenwelt kommt da erst an zweiter Stelle.
Dieses Prinzip hat uns auch auf unserer Tour eine ganz besondere Erfahrung geschenkt: Mit dem noch unfertigen Album hatten wir immer das Gefühl, etwas Kleines, ganz Eigenes in der Tasche zu haben, das niemand kannte und mit dem wir uns beschäftigen konnten. Das war vor allem an Tagen so, an denen wir wieder in irgendeiner neuen Stadt waren und uns fragten: Was geht jetzt eigentlich? Gerade in solchen Momenten fühlte sich das Album wie ein kleines Stück Zuhause an, in das wir uns immer wieder zurückziehen konnten. Wenn sich dieses Gefühl jetzt auch für andere Menschen einstellt, sobald sie es hören, ist das natürlich umso toller.

»Uns ist aufgefallen, dass wir zurzeit eher introvertiertere Musik mögen, mit der man das Nervensystem herunterfahren kann.«
MYP Magazine:
Da wir mal unterstellen, dass Ihr persönlich nicht nur Zimmer90 hört: In welcher Musik findet Ihr euren Safe Space?
Joscha:
Wir beide hören sehr gerne Men I Trust – eine kanadische Indie-Band, die eher ruhigere Musik macht. Ohnehin ist uns aufgefallen, dass wir zurzeit eher introvertiertere Musik mögen, mit der man das Nervensystem herunterfahren kann: Musik, bei der man nicht darüber nachdenken muss, ob irgendetwas daran catchy ist oder nicht.
MYP Magazine:
Braucht Ihr diese Musik, weil Euer Leben gerade durchdreht? Oder eher, weil die Welt durchdreht?
Joscha: (lächelt)
Vielleicht eine Mischung aus beidem.

»Wir finden es spannend, was in der inneren Welt eines Menschen passieren kann.«
MYP Magazine:
In »Interior« setzt Ihr euch sehr ausführlich mit dem Bedürfnis von Menschen auseinander, sich bewusst zurückzuziehen und Zeit für sich zu nehmen. Ist dieses Bedürfnis nach innerer Einkehr ein Zeichen unserer Zeit?
Finn:
Wir finden es generell spannend, was in der inneren Welt eines Menschen passieren kann. Das muss nicht immer heißen, dass man zur Ruhe kommt. Da drinnen kann auch wahnsinnig viel abgehen. Aus diesem Grund sind viele Tracks auf dem neuen Album sehr outgoing und tanzbar. Davon abgesehen glaube ich, dass jeder Mensch ab und zu mal in sein Innerstes abtauchen sollte, um sich mit dieser Welt auseinanderzusetzen…
MYP Magazine:
… auch wenn das oft die Auseinandersetzung mit schwierigen Emotionen bedeutet. Erforscht Ihr in »Yours & Mine«, dem letzten Song auf dem Album, eigentlich das Gefühl von Liebeskummer?
Finn: (lächelt)
Wir wollen mit unserer Musik grundsätzlich kein Thema vorschreiben. Bei unseren Lyrics zum Beispiel ist es oft so, dass sie sich einfach nur phonetisch gut anfühlen. Es geht da nur im Ansatz um eine Geschichte, daher ist die oft auch nur bis zu einem gewissen Grad ausformuliert. Ich finde es cool, dass jemand bei einem Song wie »Yours & Mine« eine Liebeskummer-Assoziation hat. Ich selbst zum Beispiel verbinde mit dem Song ein ganz anderes Thema. Aber beides ist total fein. Ich glaube, dieses Offenstellen von Interpretationsmöglichkeiten ist es auch, was uns so reizt und was wir mit unserer Musik immer wieder erzeugen.

»Eine Wohnung kann oft ein Ausdruck dessen sein, was die Menschen, die darin leben, ausmacht.«
MYP Magazine:
»Interior« kann auch das Innere eines Raumes bedeuten. Was verrät das Interieur eines Hauses oder eines Zimmers über die Menschen, die darin leben?
Finn:
Ich würde sagen, es ist so ein bisschen wie beim Sprichwort »Kleider machen Leute«. Eine Wohnung kann oft ein Ausdruck dessen sein, was die Menschen, die darin leben, ausmacht.
Joscha:
Stimmt. Für mich haben Räume, die total geleckt wirken und in denen alles perfekt arrangiert ist, wenig Seele. Ich habe in der Vergangenheit auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich das oft in den Leuten spiegelt, die darin wohnen. Diese Menschen sind immer ein bisschen distanzierter, kälter und verschlossener als die, die in Wohnungen leben, wo man sofort sieht: Hier wird gelebt.

»Welcher Song passt zu welchem Bild? Und welches Bild fühlt sich nach welchem Song an?«
MYP Magazine:
Bei den meisten Eurer Kolleg*innen entsteht das Artwork erst nach der Musik. Bei Euch war das teilweise umgekehrt: Ihr habt Euch beim Songwriting von teilweise jahrzehntealten Gemälden inspirieren lassen und diese auch für das Album-Artwork benutzt. Wie genau kam es dazu?
Joscha:
Mein Opa war Maler, in seinem Haus am Bodensee stehen unendlich viele Bilder herum. In diesem Haus waren wir sehr oft, um Musik zu machen. Irgendwann haben wir angefangen, unsere Tracks mit den Gemälden zu matchen. Wir haben geschaut: Welcher Song passt zu welchem Bild? Und welches Bild fühlt sich nach welchem Song an? Und so kam beides Stück für Stück zusammen.

»Wir wollten andeuten: Dieser Song ist ein Fragment des gesamten Albums – wie ein großes Gemälde.«
MYP Magazine:
Für die Titelbilder der einzelnen Single-Auskopplungen habt Ihr jeweils einen Ausschnitt von der Ecke eines Gemäldes gewählt. Habt Ihr durch diese Fokussierung neue Elemente in den Bildern entdeckt, die Euch sonst nicht aufgefallen wären?
Joscha:
Wir haben uns für die Ecken-Ausschnitte entschieden, weil wir konzeptuell andeuten wollten: Dieser Song ist ein Fragment des gesamten Albums – wie ein großes Gemälde, von dem man erst mal nur einen Teil zu sehen bekommt.
Finn:
Bei mir ist es ohnehin so, dass ich mir ein Bild stundenlang anschauen kann und dabei immer wieder etwas Neues finde. Das mache ich auch oft im Museum so: Ich setze mich bewusst vor maximal drei oder vier Bilder, aber dafür jeweils für eine halbe Stunde. Es ist krass, was dabei alles herauskommt.

»Im Grunde denken wir uns gar nicht so viel. Wir nehmen das, was gerade da ist.«
MYP Magazine:
Wie entsteht bei Euch beiden ein Song? Und wie genau arbeitet Ihr zusammen?
Joscha:
Wir haben dafür kein allgemeines Rezept, da jeder von uns auch für sich schreibt und dann mit einer Idee ins Studio kommt. Ich selbst zum Beispiel entwickle einen Song gerne einfach am Klavier und gehe dabei viel über Gesangslinien oder Lyrics. Finn dagegen baut eher Instrumentals und Drums. Manchmal setzen wir uns auch einfach nur gemeinsam ins Studio, Finn spielt Bass, ich Keys und fange an zu singen. Aber im Grunde denken wir uns gar nicht so viel. Wir nehmen das, was gerade da ist. Und wenn keiner von uns eine konkrete Idee mitbringt, starten wir einfach zusammen eine neue und hangeln uns daran entlang.
MYP Magazine:
Ist Zimmer90 eigentlich eine Bandstory oder eine Freundestory?
Joscha:
Ich würde sagen, auf jeden Fall eine Bandstory. Wir haben uns über die Musik erst kennengelernt, das war von Anfang an der Kern unserer Freundschaft. Davor standen wir in keiner Beziehung zueinander, das hat sich alles durch die Band ergeben.
Finn:
Yes, we’re creative partners.

»Je besser man sich kennenlernt, desto besser kann man auch aufeinander achten.«
MYP Magazine:
Das australische Indie-Duo Royel Otis hat uns vor Kurzem im Interview verraten: Wenn man gemeinsam eine Band hat und viel miteinander unterwegs ist, lernt man, wann man den anderen in Ruhe lassen muss. In welchen Situationen müsst ihr Euch gegenseitig in Ruhe lassen?
Finn: (lacht)
Das stimmt auf jeden Fall. Dadurch, dass wir so viel Zeit miteinander verbringen, ist die Band wirklich schwer vergleichbar mit anderen Beziehungen, die man so hat. Das ist schon ein sehr spezielles Leben. Man bekommt den jeweils anderen in fast jeder erdenklichen Situation mit und lernt ihn in seiner Persönlichkeit sehr gut kennen, mit allen Gewohnheiten und allen Details. Irgendwann bekommt man ein sehr gutes Gespür dafür, wann der andere ein bisschen Raum braucht oder ob eine Situation gerade problematisch für ihn ist. Das Gute ist: Je besser man sich kennenlernt, desto besser kann man auch aufeinander achten. Das geht natürlich nur, wenn man auch darüber spricht – und zwar regelmäßig, ganz egal, was gerade los ist.

»Wenn man es schafft, sein eigener Freund zu sein, ist das der richtige Weg.«
MYP Magazine:
Den Interview-Artikel mit Royel Otis haben wir damals eingeleitet mit einem Zitat aus dem Roman »Vom Ende der Einsamkeit« von Benedict Wells: »Am wichtigsten ist, dass du deinen wahren Freund findest. Dein wahrer Freund ist jemand, der immer da ist, der dein ganzes Leben an deiner Seite geht. Du musst ihn finden, das ist wichtiger als alles, auch als die Liebe. Denn die Liebe kann vergehen.« Stimmt Ihr zu?
Finn:
Nee.
Joscha:
Ich glaube, ich auch nicht.
MYP Magazine:
Dann tausend Dank fürs Gespräch.
(Beide lachen)
Joscha:
Freundschaften sind gut und wichtig. Aber in meiner Wahrnehmung sind sie eher ein Plus zum eigenen Leben. Oder anders gesagt: Alles fängt zunächst bei einem selbst an: Wenn man es schafft, sein eigener Freund zu sein, und nicht abhängig von der Freundschaft zu jemand anderem ist, ist das der richtige Weg. Ich muss zuerst wissen: Mir geht‘s gut, ich checke mich, ich weiß, was los ist. Und alles, was dazukommt, macht das Leben nur noch schöner.
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Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Maximilian König
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