Interview — Royel Otis
»Musik mit jemandem zu teilen ist, wie sich gegenseitig in die Seele zu schauen«
»hickey«, Knutschfleck, heißt das neue Album von Royel Otis. Die Platte ist genau das, was der Name verspricht: zupackend, intensiv und eine Achterbahn der Gefühle – musikalisch wie lyrisch. Wir haben das australische Indie-Duo zum Interview getroffen und mit ihnen über Freundschaft, Selbstzweifel und Musik als Seelenspiegel gesprochen – und natürlich darüber, warum man öfter sagen sollte: »You’re so fucking gorgeous.« Auch zu sich selbst.
22. August 2025 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Stefan Hobmaier

»Am wichtigsten ist, dass du deinen wahren Freund findest«, schreibt Benedict Wells in seinem Roman »Vom Ende der Einsamkeit«: »Dein wahrer Freund ist jemand, der immer da ist, der dein ganzes Leben an deiner Seite geht. Du musst ihn finden, das ist wichtiger als alles, auch als die Liebe. Denn die Liebe kann vergehen.«
Ein sonniger Nachmittag Ende Juni. In der Deutschland-Zentrale von Universal Music im Berliner Stadtteil Friedrichshain haben sich knapp hundert Menschen vor einer kleinen Bühne versammelt, neben der ein großer Bildschirm aufgebaut ist. Das Plattenlabel hat zu einem sogenannten Listening Event geladen, vorgestellt wird das neue Album der australischen Indie-Band Royel Otis. Der Titel: »hickey«. Oder auf Deutsch: Knutschfleck.
In der Regel laufen solche Veranstaltungen so ab, dass den Anwesenden die neue Musik vom Band vorgespielt wird. Dazu gibt es eine kleine Talkrunde, in der man sich – mal in Anwesenheit, mal in Abwesenheit der Künstler*innen – über das soeben Gehörte unterhält.
Das heutige Event startet nicht anders: Zuerst wird dem Publikum das neue Musikvideo zum Song »Car« präsentiert, in dem man Royel Madell und Otis Pavlovic – die beiden Köpfe des Indie-Duos – dabei verfolgen kann, wie sie des Nachts gemeinsam durch die Straßen von New York ziehen. Im Anschluss wird die Managerin der Band von einem Universal-Repräsentanten zum neuen Album interviewt. So weit, so erwartbar.
Doch dann gibt es einen Bruch im Protokoll – denn Otis und Royel betreten nicht nur selbst die Bühne, sondern greifen auch sofort zu ihren Instrumenten. Was folgt, ist ein ausgedehntes Akustik-Set, bei dem man die Band von einer ganz anderen musikalischen Seite kennengelernt. Bestechen die Songs von Royel Otis sonst durch die Verknüpfung von energetischen Upbeat-Rhythmen, eingängigen Melodien und einer subtilen Grundmelancholie, die unter allem liegt, füllt an diesem Nachmittag eine ganz andere Stimmung den Raum: das Gefühl von Nahbarkeit, Zurückgezogenheit, ja sogar Verletzlichkeit liegt in der Luft, getragen von der glasklaren, hellen und gleichsam dringlichen Stimme von Sänger Otis.
Am nächsten Vormittag treffen wir die beiden an selber Stelle wieder, zu einem kleinen Plausch über das neue Album und einer kurzen Foto-Session. Ach ja, fast vergessen: Mit »hickey« ist Royel Otis – schon wieder – ein richtig gutes Album gelungen, das einem schnell ans Herz wächst. Mehr Indie mag, kommt daran nicht vorbei.


»Der Song ist für uns eine wahnsinnig schöne Erinnerung.«
MYP Magazine:
Lasst uns mit dem letzten Track Eures neuen Albums starten, dem Song »Jazz Burger«. Auf dem Listening Event gestern haben wir erfahren, dass dies Euer Lieblingssong auf der neuen Platte ist. Warum?
Royel:
»Jazz Burger« ist zwar der letzte Track auf dem Album, war aber der allererste Song, den wir dafür geschrieben hatten. Das ist für uns einfach eine wahnsinnig schöne Erinnerung…
Otis:
… ja, auch weil sich der Song beim Schreiben ganz natürlich und leicht zusammengefügt hat. Im Gegensatz zu den zwölf anderen Songs, die ziemliche Uptempo-Nummern sind, hört sich »Jazz Burger« eher wie eine Ballade an. Auch das macht ihn für uns zu etwas ganz Besonderem.

»Dieser Schmerz zeigt mir: Meine Liebe ist echt.«
MYP Magazine:
Euer Album trägt den Titel »hickey«. Im Deutschen würde man »Knutschfleck« sagen.
Otis: (grinst)
Das können wir nicht aussprechen.
MYP Magazine:
Zu diesem Titel gebt Ihr uns folgende Bemerkung mit: Love bites harder than any other feeling in the world. Habt Ihr persönlich die Erfahrung gemacht, dass Liebe etwas Schmerzvolles ist, selbst wenn man frisch verliebt ist und sich auf Wolke sieben befindet?
Otis:
Liebe muss nicht immer wehtun. Aber wenn sie es tut, ist der Schmerz manchmal so groß, dass mir richtig schlecht wird.
Royel:
Ich kenne dieses Gefühl ebenfalls – weil ich dazu neige, zu viel an jemanden zu denken. Aber wie Otis sehe auch ich das nicht unbedingt als etwas Negatives. Der Schmerz zeigt mir: Meine Liebe ist echt.


»Man kann niemandem vertrauen, den man nicht respektiert.«
MYP Magazine:
»hickey« ist – im Gegensatz zu Euren vorherigen Alben – in Kooperation mit diversen anderen Partnern entstanden, darunter renommierte Namen wie Blake Slatkin, Omer Fedi und Billy Walsh, die schon für Gracie Abrams, Lil Nas X oder The Weeknd produziert haben. Warum habt Ihr euch entschieden, für dieses Album Eure musikalische Küche weit zu öffnen und mit vielen unterschiedlichen Menschen an einem Album zu arbeiten?
Otis:
Dahinter steckt weniger ein strategischer Gedanke, sondern vielmehr die Lust, einfach mal auszuprobieren, wie es ist, mit anderen an einem Album zu schreiben. Wir dachten: Von solchen erfahrenen Produzenten kann man bestimmt was lernen. (lächelt)
Royel:
Genau! Davon abgesehen ist Abwechslung die Würze des Lebens, wie man so schön sagt.
MYP Magazine:
Dennoch erfordert so ein Schritt viel Vertrauen zwischen allen Beteiligten.
Royel:
In erster Linie erfordert es gegenseitigen Respekt, aus dem letztendlich Vertrauen entsteht. Man kann niemandem vertrauen, den man nicht respektiert.
MYP Magazine:
Das wäre schon mal eine mögliche Überschrift fürs Interview.
(Alle lachen)

»Wir haben viel über Musik geredet und darüber Freundschaften aufgebaut.«
MYP Magazine:
Wie genau kam es zu diesen vielen Kooperationen?
Otis:
Uns wurden ein paar Produzenten empfohlen. Und mit denen, bei denen wir das Gefühl hatten, dass sie gut zu uns passen könnten, sind wir in Kontakt getreten. Wir haben viel über Musik geredet, darüber Freundschaften aufgebaut und gemeinsam Ideen entwickelt, wie die jeweiligen Songs funktionieren können. Diese Vorgehensweise hat sich zu hundert Prozent ausgezahlt: Mit dem Ergebnis sowie dem gesamten Prozess dahinter sind wir mehr als happy.

»Ich liebe so was: wenn es schön klingt, aber mehr dahintersteckt.«
MYP Magazine:
Eure Musik zeichnet sich aus durch eine Mischung aus treibenden, energetischen Rhythmen, unter denen aber immer eine subtile Melancholie zu liegen scheint. Wie erklärt Ihr euch diesen speziellen »Royel Otis Sound«?
Otis:
Ganz einfach: weil in uns beiden ein bisschen von beidem steckt. Wir sind zwei Menschen, die eine gewisse Melancholie in sich tragen und trotzdem großen Spaß an energiegeladener Musik haben.
Royel:
Absolut. Ich persönlich stehe total auf Songs, die einen treibenden Beat haben und beim ersten Hören super fröhlich klingen, aber gleichzeitig auch eine dunkle Seite besitzen – etwa auf der lyrischen Ebene. »Every Breath You Take« von The Police ist da ein gutes Beispiel. Der Song klingt erst mal super romantisch, ist letztendlich aber aus der Perspektive eines Stalkers geschrieben. Ich liebe so was: wenn es schön klingt, aber mehr dahintersteckt.


»Wenn man selbst mit Dunkelheit zu kämpfen hat, ist es einfacher, andere zum Lachen bringen, als sich selbst aufzuheitern.«
MYP Magazine:
Von der australischen Singer-Songwriterin Kat Frankie, die hier in Berlin lebt, stammt der Satz: »Leute, die traurige Lieder schreiben, sind eigentlich ein bisschen happier.« Hat sie recht?
Otis: (lacht)
Ich weiß nicht, ob ich das glauben kann.
Royel: (nickt)
Ja, sag das mal jemandem wie Elliott Smith…
Otis:
… oder Sinéad O’Connor. Und bedeutet das nicht auch in der Konsequenz, dass die Leute, die fröhliche Musik schreiben, eigentlich die traurigen sind?
Royel:
Das würde Sinn machen. Zumindest, wenn sie sich selbst mit ihrer Musik davon überzeugen wollen, dass sie glücklich sind. Es gibt auch viele Comedians, die an Depressionen leiden. Ich glaube, wenn man selbst mit Dunkelheit zu kämpfen hat, ist es einfacher, andere zum Lachen bringen, als sich selbst aufzuheitern.

»Wenn ich an einem Song schreibe, ist das, als würde ich mit mir selbst ins Gespräch kommen.«
MYP Magazine:
Aus welchem Bedürfnis heraus macht Ihr beide Musik?
Otis:
Musikmachen ist für mich die reine Entspannung und hat fast etwas Meditatives. Wenn ich an einem Song schreibe, ist das, als würde ich mit mir selbst ins Gespräch kommen. Das klingt seltsam, ist aber etwas Wunderschönes.
Royel:
Ich mache Musik aus dem Bedürfnis heraus, lebendig zu sein. Aus dem Bedürfnis zu leben, zu überleben. Auf jeden Fall ist es ein gutes Ventil.
MYP Magazine:
Überleben im emotionalen oder existenziellen Sinn?
Royel:
Leider beides. Wie fast alle Musiker.


»Je bekannter man wird, desto mehr Selbstzweifel kommen hinzu.«
MYP Magazine:
In Euren Songs sprecht Ihr auch oft über Unsicherheiten und Selbstzweifel. Ist es ein Irrglaube, dass berühmte Menschen weniger davon haben?
Otis:
Das Gegenteil ist sogar der Fall. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: Je bekannter man wird, desto mehr Selbstzweifel kommen hinzu.
Royel:
Das liegt daran, dass man dem Urteil von immer mehr Leuten ausgesetzt ist. Viele Stars, von denen man denkt, dass sie alles haben müssten, um glücklich zu sein, sind tatsächlich extrem unsicher und tragen einen enormen emotionalen Ballast mit sich herum.

»Wir blenden immer den Hinweis ein, dass man den Leuten direkt neben sich sagen soll, dass sie fucking gorgeous sind.«
MYP Magazine:
Wir Menschen neigen dazu, andere auf ein Podest zu heben und selbst dabei klein zu machen. Mit Eurem Song »Sofa King« habt Ihr uns gegen diese schlechte Angewohnheit eine wundervolle Textzeile geschenkt, die mittlerweile fast Kultstatus genießt: You’re so fucking gorgeous. Gelingt es Euch selbst, Euch so einen Satz ab und zu mal vor dem Spiegel ins Gesicht zu sagen?
Royel:
Ganz ehrlich: Ich persönlich bin nicht wirklich gut darin. Aber ich finde es schön, wenn man so was in einem Song ausdrücken kann – oder besser gesagt: wenn ich es in einem Song sagen kann. Und wenn wie bei unseren Shows alle Leute im Publikum diese eine Zeile mitschreien, ist das umso schöner. Wenn wir den Song spielen, blenden wir auf der Videowand hinter der Bühne immer den Hinweis ein, dass man den Leuten direkt neben sich sagen soll, dass sie fucking gorgeous sind. Wenn man – wie ich – schon nicht in der Lage ist, sich selbst diese Worte zu sagen, sollte man zumindest von Menschen umgeben sein, die einem das mal zurufen. Und das gilt nicht nur für ein Konzert von Royel Otis.

»Das wird hier langsam zu einer Therapiesitzung.«
MYP Magazine:
Was schätzt Ihr beide an dem jeweils anderen und macht ihn zu einem fucking gorgeous Menschen?
Royel:
Otis‘ verschlafene Rehaugen.
Otis: (lacht)
Meine was?!
Royel:
Ja, Du hast verschlafene Kulleraugen. Wie ein Reh.
Otis: (lächelt)
Das wird hier langsam zu einer Therapiesitzung. Aber okay: Ich schätze an Royel, dass er immer die Stimmung hochhält und wir etwas zu lachen haben.
Royel:
Danke, Mann!
MYP Magazine:
Letztes Jahr saßen wir im Raum nebenan mit einem anderen australischen Duo zusammen: Angus & Julia Stone. Im Interview haben wir damals auf die zehnjährige Bandgeschichte zurückgeblickt. Royel Otis besteht mittlerweile seit sechs Jahren. Mit welchen sechs Begriffen würdet Ihr eure gemeinsame musikalische Reise zusammenfassen?
Royel: (überlegt)
Chaotisch, schlaflos, …
Otis:
… schmerzhaft. Und überraschend.
Royel:
Vor allem dankbar.
Otis:
Und schlafbedürftig.

»Bei Elton John hatten wir nicht unbedingt eine Überschneidung – leider.«
MYP Magazine:
Ihr habt Euch 2019 darüber kennengelernt, dass Ihr die gleiche Musik gehört und dieselben Bands gut fandet. Otis hat gestern bei dem Akustikset ein Elton-John-T-Shirt getragen. Gehört er zu den musikalischen Helden von Euch beiden?
Otis:
Nein, bei Elton John hatten wir nicht unbedingt eine Überschneidung – leider. Ich liebe seine Musik.
Royel:
Es waren vielmehr The Cure, Joy Division, New Order, …
Otis:
… The Weeknd, Frank Ocean, Alessi Brothers, The Modern Lovers.
MYP Magazine:
Ist das nicht seltsam? Nur durch die Aufzählung einiger Bands hat man direkt das Gefühl, sein Gegenüber ein kleines bisschen besser zu verstehen und seine Persönlichkeit zu erkennen.
Royel:
Ja, Musik mit jemandem zu teilen ist, wie sich in gegenseitig in die Seele zu schauen.


»Man lernt, wann man den anderen in Ruhe lassen muss.«
MYP Magazine:
Gestern beim Listening Event lief Euer Musikvideo zum Song »Car«. Wenn man Euch dabei zusieht, wie Ihr zusammen nachts durch die Straßen von New York zieht, hat man den Eindruck, dass Royel Otis sich einfach als eine wunderschöne Geschichte von Freundschaft zusammenfassen lässt – ein Wort übrigens, das Ihr in Eurer Aufzählung eben gar nicht genannt habt…
Royel:
… stimmt, das gehört da unbedingt dazu.
MYP Magazine:
Ist Eure Musik eigentlich ein Produkt Eurer Freundschaft? Oder hat sich diese Freundschaft erst aus dem gemeinsamen Musikmachen ergeben?
Otis:
Unsere Freundschaft ist ganz klar aus der Musik entstanden. Unser erstes richtiges Gespräch drehte sich nur um Musik – und die Band hat über die Jahre eine gewisse Nähe erzwungen, die sich zu einer engen Freundschaft entwickelt hat.
MYP Magazine:
Macht das die Freundschaft stärker?
Royel:
Definitiv. Gemeinsam auf Tour zu sein ist der beste Weg, um einen Menschen bis ins Detail kennenzulernen. Nicht nur, weil man sich von Tag zu Tag besser versteht. Sondern auch, weil man lernt, wann man den anderen in Ruhe lassen muss.

»Es ist schon so, dass man Teile seines alten Lebens verliert, die man immer sehr mochte.«
MYP Magazine:
In dem Song »Car« singt ihr: We know it’s gonna change sometime. Wie hat sich Euer Leben in den letzten sechs Jahren verändert?
Otis:
Wir sind heute viel, viel beschäftigter als noch vor sechs Jahren. Und was mich persönlich angeht, habe ich den Eindruck, dass ich mich emotional irgendwie verändert habe. Ob zum Guten oder zum Schlechten, weiß ich aber nicht. (lacht)
Royel:
Es ist schon so, dass man Teile seines alten Lebens verliert, die man immer sehr mochte. Aber das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Ich würde es eher als einen Reset beschreiben.


»Ich vermisse die Einfachheit eines geregelten Alltags.«
MYP Magazine:
Gibt es etwas, das Ihr an Eurem alten Leben vermisst? Zum Beispiel jetzt gerade, während Ihr hier am anderen Ende der Welt ein Interview führt, statt zu Hause in Australien zu sein?
Royel:
Gerade im Moment vermisse ich meine Familie und die Möglichkeit, einfach mal für längere Zeit an einem Ort zu bleiben.
Otis:
Genau, dieses Sesshafte fehlt mir auch manchmal. Außerdem vermisse ich die Einfachheit eines geregelten Alltags: jeden Morgen am selben Ort aufwachen und dann in der eigenen Routine leben. Das mal wieder zu haben, wäre echt schön.

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Fotografie: Stefan Hobmaier





























