Interview — Leonard Scheicher

»Wer von uns eckt schon gerne an?«

Im neuen Kinofilm »Bubbles« spielt Leonard Scheicher einen jungen Mann, der übers Wochenende in seine alte Heimat fährt. Dort wird er nicht nur mit einer Lebenswelt konfrontiert, der er lange entflohen ist, sondern auch mit seinem ehemals besten Freund, der mittlerweile politisch auf Rechtsaußen setzt. Ein Interview über die Macht sozialer Blasen, die Schwierigkeit, für sich selbst Position zu beziehen, und die Frage, wie wir als Gesellschaft wieder mehr ins Gespräch finden können.

26. Oktober 2025 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian Motel

Gibt es in Deutschland eine Entkopplung sozialer Gruppen? Mit dieser Frage beschäftigt sich ein Bericht des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), der vor knapp zwei Jahren veröffentlicht wurde. Als wissenschaftliche Grundlage dafür dienten die Antworten von 12.000 Menschen, die unter anderem zu ihren Idealen des gesellschaftlichen Zusammenlebens befragt wurden.

Das FGZ kommt zu dem Schluss: »Die deutsche Gesellschaft ist weit davon entfernt, in vollständig polarisierte Lager gespalten zu sein.« Grund genug also zur Entwarnung?

Nicht ganz. Denn »gleichwohl«, so ergänzen die Wissenschaftler*innen, »finden wir Tendenzen gesellschaftlicher Spaltungen im Sinne einer lebensweltlichen Entkopplung bestimmter sozialer Gruppen.« Dabei seien sie auf »eigensinnige Netzwerkgruppen« gestoßen, die stark segregiert seien und sich in Bezug auf die untersuchten Aspekte deutlich von anderen unterschieden, darunter etwa »politisch homogene Netzwerke mit Grünen- bzw. AfD-Sympathisant*innen, homogen ostdeutsche, homogen hochgebildete sowie homogen ländliche Netzwerke.«

Außerdem fragen sie: »Handelt es sich bei den sozialen Gruppen, die strengere Klimaschutzmaßnahmen und eine geschlechtergerechte Sprache fordern, um eine urbane akademische Mittel- und Oberschicht, die in einer Blase lebt und den Kontakt zu den einfachen Leuten verloren hat?«

Um diese Frage geht es auch im Drama »Bubbles …wir waren doch Freunde«, das gerade in den bundesdeutschen Kinos angelaufen ist. Im Zentrum des Films von Autor und Regisseur Sebastian Husak steht ein junger Mann namens Fiete, der mit seiner Freundin Amiri ein Wochenende in seiner alten Heimat am Wattenmeer verbringen will. Kaum in der ländlichen Idylle angekommen, stoßen die beiden auf den charismatischen Luca, der mal Fietes bester Freund war.

Doch Luca lebt mit seinem inzwischen rechtskonservativen Weltbild nicht nur in einer völlig anderen Blase als der Neu-Großstädter Fiete. Er konfrontiert ihn auch mit einer lange verdrängten, persönlichen Schuld aus der Vergangenheit. Und so dauert es nicht lange, bis die beiden Männer und ihre Lebenswelten aufeinanderprallen.

Gespielt wird Fiete von Leonard Scheicher. Der 33-Jährige, der in München geboren ist und mittlerweile in Berlin lebt, war zuletzt unter anderem in der Sky-Serie »Das Boot« und in dem Kinofilm »Der vermessene Mensch« zu sehen. Bereits 2017 haben wir den vielseitigen Schauspieler zu einem Interview getroffen, vor wenigen Wochen nun sind wir ihm erneut begegnet, um mit ihm über »Bubbles« zu sprechen – jenen Film, der so erschreckend gut in die Zeit passt und bei dem man sich als Zuschauer seltsam ertappt fühlt, ganz egal, wie man persönlich auf die Welt schaut.

»Fiete ist ein Mensch, den es überfordert, Position zu beziehen.«

MYP Magazine:
Leonard, vor ziemlich genau acht Jahren hast Du uns im Interview verraten: »Für jede Figur entwickle ich ganz am Anfang eine Idee – die verfolge ich dann mit dem vollen Risiko, nie zu wissen, ob diese Idee am Ende aufgeht.«

Leonard Scheicher: (lacht)
Bah! Was für ein großkotziger Satz, so im Rückblick.

MYP Magazine:
Bleiben wir kurz dabei: Welches Risiko bist Du bei Deiner Figur Fiete eingegangen?

Leonard Scheicher:
Fiete ist ein Mensch, den es überfordert, Position zu beziehen. Er schwankt immer zwischen verschiedenen Meinungen und weiß nicht, welcher er sich anschließen soll. Das Einzige, das ihm wichtig ist, ist seine Freundin Amiri nicht zu verlieren und eine gute Zeit zu haben. Sich in so einen Charakter hineinfallen zu lassen, bedeutet für mich als Schauspieler ein gewisses Risiko – zumal wir alles improvisiert haben.

»Unser Film hat etwas von einem griechischen Drama.«

MYP Magazine:
In einem Interview mit dem Movie-College hast Du dieses improvisierte Spiel als »Leben vor der Kamera« bezeichnet. Was genau meinst Du damit?

Leonard Scheicher:
Beim Impro kann man nicht ausweichen. Man muss entweder agieren oder reagieren – und das fühlt sich besonders lebendig und lebensnah an. Für die Zuschauer*innen bedeutet das, dass sie die Figuren unmittelbarer erleben und ihre Disposition besser verstehen können. Durch diesen Aspekt hat unser Film auf jeden Fall etwas von einem griechischen Drama, in dem jede Position klar nachvollziehbar ist. Ich weiß, das sind große Worte, aber ich finde, dass »Bubbles« das sehr gut gelungen ist.

»Da muss man sich im Vorfeld gut abstimmen, damit alle die gleiche Version von dieser Vergangenheit haben.«

MYP Magazine:
Wie hast Du dich auf dieses Improvisationsspiel vorbereitet?

Leonard Scheicher:
Generell hat das Drehbuch klar beschrieben, was passieren soll. Dramaturgisch war das alles sehr dicht konstruiert. Das Einzige, das gefehlt hat, waren die Dialoge – auch wenn es im Buch den einen oder anderen Vorschlag gab, welche Sätze fallen müssen. Das war’s aber.
Für die Vorbereitung hieß das: Ich musste so viel wie möglich über meine Figur sowie über ihre Beziehung zu den anderen herausfinden. Das war wichtig, denn Luca und Fiete haben eine gemeinsame Vergangenheit, die ein großes Thema zwischen den beiden ist. Da muss man sich mit den Kolleg*innen im Vorfeld gut abstimmen, damit alle die gleiche Version von dieser Vergangenheit haben.
Darüber hinaus ist es so, dass man für einen Film wie »Bubbles« keine einzelnen Szenen vorbereitet, sondern eher Konstellationen erarbeitet und sich intensiv mit der Geschichte und Eigenheiten der Charaktere befasst. Man klärt Fragen wie: Warum funktioniert die Beziehung zwischen Amiri und Fiete? Warum haben sie sich ineinander verliebt und hängen so aneinander? Was geben sie sich, was fehlt ihnen am jeweils anderen? Oder genauso wichtig: Wie war die Beziehung zwischen Luca und Fiete damals, wie ist sie heute? Wo und warum werden Schuldgefühle verdrängt? Und wie gehen sie damit um?

»Es ist nicht so leicht, Position zu beziehen und dafür einzustehen.«

MYP Magazine:
Es dauert im Film keine drei Minuten, da fällt Dein Fiete schon mit seiner ersten Lüge auf. Dieses Verhalten steht im krassen Gegensatz zu seiner Attitüde der moralischen Überlegenheit, mit der er Luca gegenübertritt – etwa beim Thema Fleischkonsum. Was ist das für ein Selbstverständnis?

Leonard Scheicher:
Ich glaube, erst mal gar keins. Fiete will nirgendwo anecken. Aber gerade das macht die Figur so interessant. Man weiß nie, ob er die Dinge, die er sagt, wirklich so sieht oder ob er sich seine Meinung nur angeeignet hat – und zwar in der Bubble, in die er geraten ist; jene Bubble, die ihn aufgenommen hat und jetzt sein Leben bestimmt.
Übrigens: Ich finde, man kann ihm dieses Verhalten nicht mal vorwerfen. Die allermeisten von uns benehmen sich ganz ähnlich. Die Art und Weise, wie wir reden und handeln, wird davon bestimmt, in welchem sozialen Umfeld wir uns bewegen. Und seien wir ehrlich: Wer von uns eckt schon gerne an oder geht auf Konfrontationskurs?

MYP Magazine:
Du auch nicht?

Leonard Scheicher:
Natürlich nicht! Es ist nicht so leicht, Position zu beziehen und dafür einzustehen. Das muss man erst mal lernen. Ich selbst kenne diesen Drang, bei anderen gut ankommen zu wollen. Da kann man sich schon mal irgendwo reinreiten. Bei Fiete ist das natürlich alles viel größer: Da werden Lügen aufgefahren, um den schönen Schein zu wahren und den netten Jungen von nebenan zu geben.

»Online schlagen die Meinungen blitzschnell und ungezügelt in Hass um.«

MYP Magazine:
Dabei glänzen Luca und Amiri auch nicht gerade durch ihre kommunikativen Fähigkeiten.

Leonard Scheicher:
Ja, aber auch das ist ein Zeichen unserer Zeit. Ich glaube, vor 40, 50 Jahren war das in unserer Gesellschaft noch anders. Da hat man viel krasser miteinander diskutiert.

MYP Magazine:
Hast Du ein Beispiel?

Leonard Scheicher:
Ich denke da etwa an die politischen Talkshows der Siebziger, in denen die Gäste ketterauchend und in schwere Ledersessel versunken ihre Standpunkte ausgefochten haben – hart in der Sache, aber mit einer gewissen Gesprächskultur. Es gibt da einen Ausschnitt mit Nina Hagen, auf den ich mal gestoßen bin. Im Vergleich dazu wirkt heutzutage im TV alles ein bisschen weichgespült, während online die Meinungen blitzschnell und ungezügelt in Hass umschlagen.

»Ich will umgeben zu sein von Menschen, die jemanden, der von woanders herkommt, nicht scheiße finden.«

MYP Magazine:
In welcher Bubble lebst Du selbst eigentlich?

Leonard Scheicher:
Ich würde meine Bubble mal beschreiben als großstädtisch, aufgeklärt, links oder linksliberal… keine Ahnung. Auf jeden Fall arbeiten die meisten meiner Freundinnen und Freunde in künstlerischen oder kreativen Berufen. Da ist kaum jemand dabei, der einen industriellen Job hat.

MYP Magazine:
Was genau meinst Du mit großstädtisch?

Leonard Scheicher:
Zum Beispiel, keine Angst vor dem Fremden zu haben und weltoffen zu sein. Ich habe in London, Berlin und München gelebt. Vor allem in London hat man den Eindruck, dass die ganze Welt in einer Stadt wohnt und miteinander klarkommt. Das ist ohnehin etwas, das mir in meinem Leben wichtig ist: Ich will umgeben sein von Menschen, die jemanden, der von woanders herkommt, nicht scheiße finden oder Angst vor ihm haben.

»Wir sollten uns auf das Miteinander besinnen, auf das Gemeinsame.«

MYP Magazine:
Wann hast Du dich zum letzten Mal mit jemandem ernsthaft ausgetauscht, der absolut gar nichts mit Deiner Bubble zu tun hat?

(Leonard überlegt einige Sekunden)

MYP Magazine:
Allein das Nachdenken ist schon ein Zeichen.

Leonard Scheicher:
Ich finde, wir sollten uns auf das Miteinander besinnen, auf das Gemeinsame – trotz der bei den Wahlen so spürbaren Spaltung. Ich war zum Beispiel vor Kurzem in Brandenburg auf einem Dorffest. Da hat ein ganz anderer Schnack geherrscht als der, den ich aus meiner eigenen Lebenswelt gewohnt bin. Ich bin dort zwar nicht in ein politisches Gespräch eingestiegen, geschweige denn in die Konfrontation gegangen. Aber man kann bei solchen Anlässen wunderbar zusammen etwas trinken und sich über den Musikgeschmack des DJs lustig machen. Am Ende haben wir alle sogar ein bisschen getanzt.

MYP Magazine:
Du hast brandenburgische Dorffest-Erfahrungen?

Leonard Scheicher:
Ein Freund von mir hat dort ein Haus, ich hab‘ ihn vor Kurzem besucht und wir waren zusammen auf einem Dorffest.

»Es kommt unweigerlich zum Clash, da beide ihr jeweiliges Anliegen über das ihres Gegenübers stellen.«

MYP Magazine:
In Eurem Film kollidieren die einzelnen Bubbles zum ersten Mal, als alle drei am Lagerfeuer sitzen. Doch während Amiri und Luca schnell aneinandergeraten und immer hitziger argumentieren, entzieht sich Fiete dem Gespräch und macht Musik an…

Leonard Scheicher:
… ja, das ist eine Schlüsselszene. Alle sind leicht angetrunken und sticheln passiv-aggressiv herum. Das Ganze explodiert, als der rechtskonservativ eingestellte Luca plötzlich den provokanten Vorschlag macht, dass man die Protestierenden der Letzten Generation einfach mit dem Flugzeug überfahren sollte, wenn sie sich auf der Landebahn eines Flughafens festkleben.

MYP Magazine:
Kurz darauf fragt Amiri aufgebracht: »Welches Problem ist denn größer als der Klimawandel?« Und Luca antwortet: »Die Armut zum Beispiel.« In dem Moment möchte man sich als Zuschauer gerne dazusetzen und sagen: Streitet nicht so miteinander! Ihr sitzt doch in einem Boot.

Leonard Scheicher:
Das stimmt. Beide haben in gewisser Weise recht, denn beide Probleme betreffen beide. Das Ding ist nur, dass die jeweiligen Prioritäten irgendwo anders liegen. So kommt es unweigerlich zum Clash, da beide ihr jeweiliges Anliegen über das ihres Gegenübers stellen.

»Es scheint jeden Tag ein bisschen normaler zu werden, Witze zu machen, bei denen es etwa um das Überfahren von Menschen geht.«

MYP Magazine:
Wie könnte man die Situation entspannen – auch bei vergleichbaren Diskursen in der realen Welt?

Leonard Scheicher:
Das ist alles andere als leicht. In unserem Film scheitert die Entspannung nicht zuletzt an der rechtskonservativen Einstellung von Luca. Und die ist – auch in der realen Welt – Ergebnis dessen, dass wir als Gesellschaft Stück für Stück nach rechts rücken. Es scheint jeden Tag ein bisschen normaler zu werden, Witze zu machen, bei denen es etwa um das Überfahren von Menschen geht.
Dahinter steckt eine ganze Philosophie. Es gibt immer mehr Leute, die sich trauen, irgendetwas öffentlich zu äußern, das noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Der darauf folgende Mechanismus ist immer derselbe: Menschen empören sich, dann ebbt die Empörung ab, kurz darauf haut wieder jemand etwas raus, das noch ein bisschen krasser ist, und danach geht das Ganze von vorne los. Dabei wird die Grenze des Sagbaren immer mehr verschoben. So wird das, was früher noch undenkbar war, sukzessive normalisiert.

»Luca benennt Probleme, die ihn direkt betreffen und mit denen er sich alleingelassen fühlt. Diese Position macht ihn sehr stark.«

MYP Magazine:
Der französische Autor Édouard Louis hat vor Kurzem bei einer Lesung in Berlin gesagt: »Man kann Gewalt nur wirksam bekämpfen, indem man versucht, sie zu verstehen.«

Leonard Scheicher:
Das ist ein guter Ansatz.

MYP Magazine:
Was würde man herausfinden, wenn man versuchen würde, Lucas verbale Gewalt zu verstehen?

Leonard Scheicher:
Luca benennt Probleme, die ihn direkt betreffen und mit denen er sich alleingelassen fühlt – etwa, dass die Leute aus seinem Dorf wegziehen, weil die Infrastruktur nicht mehr funktioniert. Das sei, so erklärt er, auch der Grund für sein Engagement in der rechtspopulistischen Partei: »Weißt Du, was die für unser Dorf tun, Fiete? Die hören uns zu.« Diese Position macht ihn sehr stark.

»Für uns Menschen ist es grundsätzlich schwer zu fassen, dass es in einem Land verschiedenste Lebensrealitäten gibt.«

MYP Magazine:
Der Film »Alle reden übers Wetter« von Autorin und Regisseurin Annika Pinske aus dem Jahr 2022 beschäftigt sich ebenfalls mit diesem Thema: Er macht sichtbar, wie Menschen, die vom Land in die Stadt gezogen sind, gerne mal vergessen, dass die Zurückgelassenen ebenfalls Gefühle und eine eigene Lebensrealität haben – aus Ignoranz, Selbstfixierung und einem scheinbaren Überlegenheitsgefühl heraus. Warum ist Fiete der Blick für die Leute in seiner Heimat abhandengekommen?

Leonard Scheicher:
Ich glaube, in ihm gab es schon immer den Antrieb, dort wegzukommen und diesem Leben zu entfliehen. Dafür hat er gelernt, sich zu verstellen – ganz ähnlich übrigens, wie Édouard Louis das in seinem Buch »Anleitung ein anderer zu werden« beschreibt. In der neuen Bubble, in der Fiete jetzt lebt, sind die Probleme von vorher nicht mehr wichtig, und er kann sich damit auch nicht mehr identifizieren.
Dazu kommt, dass es für uns Menschen grundsätzlich schwer zu fassen ist, dass es in einem Land, in dem wir alle gemeinsam leben, verschiedenste Lebensrealitäten gibt. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass man gerade mal die Probleme der Menschen versteht, die direkt um einen herum sind: im Freundeskreis, im Sportverein, vielleicht auch noch im Dorf. Aber für mehr haben wir scheinbar nicht das Fassungsvermögen.

MYP Magazine:
Vielleicht wollen wir auch gar nicht mehr sehen.

Leonard Scheicher:
Das ist ebenso möglich, ja. Wir alle sind supergut darin, Dinge zu verdrängen. Das ist bei Fiete nicht anders. Aber dieses Verdrängen hilft uns Menschen auch dabei, am Leben zu bleiben. Davon abgesehen haben die meisten Leute auch gar nicht die Zeit, sich mit den Problemen anderer zu befassen. Etwa, weil sie zwei oder drei Jobs machen, um über die Runden kommen. In so einer Situation hat man nicht mal Zeit, über sich selbst nachzudenken. Was für ein Fluch! Demgegenüber genieße ich als Schauspieler ein enormes Privileg, weil ich sehr viel herumkomme, verschiedenste Orte und Lebensumstände kennenlerne und mein Beruf mich mehr oder weniger dazu zwingt, empathisch zu sein.

»Ich habe mir als Kind gewünscht, dass meine Familie mehr Geld hat.«

MYP Magazine:
Gerade in den letzten Jahren ist viel sogenannte Klassenliteratur entstanden, die sich mit der wachsenden Distanz zu Herkunftsort und -milieu beschäftigt, die sich einstellt, wenn man die sozioökonomische Klasse wechselt, etwa wenn man aus einem Arbeitermilieu in ein Künstlermilieu wechselt. Bist Du ein solcher Klassenwechsler?

Leonard Scheicher:
Nein, ich bin maximal ein Stadtwechsler, weil ich von München nach Berlin gezogen bin – aber auch das nicht so richtig. Da mein Vater seit vielen Jahren in Berlin lebt, kannte die Stadt auch vorher schon ganz gut. Trotzdem kann ich mich erinnern, dass ich mir als Kind gewünscht habe, dass meine Familie mehr Geld hat. Mein Vater ist Künstler, meine Mutter arbeitet als pharmazeutisch-technische Angestellte. Zwar ging es uns immer gut und wir hatten keine krassen finanziellen Probleme. Dennoch war ich auf meiner Waldorfschule immer umgeben von Kindern, die in deutlich mehr Wohlstand aufgewachsen sind. Als ich das gesehen habe, wollte ich das auch – das ist das einzige bisschen Klassenwechsel, das ich mir vorstellen kann.

»Wir Schauspielende sind in besonderem Maße davon abhängig, gewollt zu werden.«

MYP Magazine:
»Ihr in eurer Altbauwohnung!«, kanzelt Luca die beiden anderen nach der Szene am Lagerfeuer ab. Mit welchen Klischees bist Du persönlich als Schauspieler konfrontiert?

Leonard Scheicher:
Naja, auf viele wirkt so ein Schauspielerleben relativ schillernd. Aber die bittere Realität ist, dass gerade viele von uns keinen Job haben. Der Branche geht es schlecht, der ganzen Wirtschaft geht es schlecht. Die Situation ist wirklich ernst. Wo das hinführt, weiß ich noch nicht.

MYP Magazine:
»Verlieren tut der Seele gut, mal aus dem Schlamm wieder hoch«, sagt Luca an jenem Abend am Lagerfeuer. Man müsse auch mal verlieren können, sonst werde man ein bisschen arrogant und elitär. Siehst Du das ähnlich?

Leonard Scheicher:
Verlieren ist so ein starkes Wort. Aber klar: Von zehn Castings, zu denen ich eingeladen werde, führen am Ende acht zu Absagen. Die Ablehnung ist der Normalzustand. Dennoch fühlt sich fast jede einzelne Absage wie eine fette Niederlage an: so kurz vor einem tollen Job mit einem tollen Regiemenschen zu sein, aber das Ding dann doch nicht zu bekommen, ist hart. Aber das gehört zu meinem Beruf dazu – wie es auch zu anderen Berufen gehört, dass dort nicht immer alles klappt.
Dummerweise sind wir Schauspielende in besonderem Maße davon abhängig, gewollt zu werden. Daher ist es in unserem Job umso wichtiger, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen. Talent zu haben ist in unserer Branche das eine. Aber eine echte Karriere damit zu machen, ist das andere.

»Die Städte, aus denen es Angebote für mich gab, waren für mein Ego nicht groß genug.«

MYP Magazine:
Wäre das Theater kein Karriereweg für Dich gewesen? Immerhin ist man da fest angestellt.

Leonard Scheicher:
Tja. Nach der Schauspielschule war ich bereit, ein Engagement an einem Theater anzutreten. Aber die Städte, aus denen es Angebote für mich gab, waren für mein Ego nicht groß genug. Ich war mir damals absolut sicher, dass ich auch an größere Bühnen kommen könnte, und sei es nur als Gast. Das hat sich aber nicht eingestellt. Wenig später kam Corona, alles wurde schwieriger und an den paar Häusern, an denen ich noch vorsprechen konnte, hat es nicht geklappt. Kurz darauf bin ich nach England gezogen und hatte das Gefühl, dass sich damit ein Kapitel geschlossen hatte.
Dabei vermisse ich das Theater total. Ich vermisse es, auf einer Bühne live die Sachen zu verhandeln – und zwar vor und mit den Menschen, für die es gemacht ist. Vielleicht bräuchte ich dazu einfach noch mal die Möglichkeit. Und vielleicht müsste ich mich darum einfach mal mehr kümmern.

»Seit ich 30 bin, finde ich mein Alter super.«

MYP Magazine:
Das klingt etwas melancholisch. In unserem Interview von vor acht Jahren hast Du erzählt, dass es Dir ziemlich oft passiert, dass Du deiner eigenen Jugend hinterhertrauerst. Ist das immer noch so?

Leonard Scheicher:
Hinterhertrauern? Nee. Seit ich 30 bin, finde ich mein Alter super. Die Zwanziger sind eine verdammt harte Zeit. Das Schöne ist: Man erlebt vieles zum ersten Mal. Aber es gibt auch eine Kehrseite: Das alles kann einen sehr leicht überfordern und man weiß in dieser Zeit eigentlich nie so richtig, wohin mit sich.
Ich glaube, ich habe das damals gesagt, weil ich mich zurückgesehnt habe nach der der jugendlichen Leichtigkeit, die ich hatte, als ich noch zu Hause wohnte. Man war in der Schule, hatte einen geregelten Alltag und war insgesamt von einer viel größeren Sicherheit umgeben. Doch auch wenn ich eine gute Kindheit und Jugend hatte: Heute würde ich nicht mehr unterschreiben, dass ich diesen Jahren hinterhertrauere.

MYP Magazine:
Was ist aus Deiner Sicht das Gute am Erwachsenwerden?

Leonard Scheicher:
Dass man schon einiges erlebt hat und durch diese Erfahrung ein bisschen gelassener auf bestimmte Dinge schauen kann. Und dass man ernst genommen wird – zumindest ernster als mit 20.

»Mein Schauspieler-Ich flüstert mir dann ins Ohr: Das ist es! Jetzt erzählst du vom Menschsein.«

MYP Magazine:
In »Bubbles« gibt es eine Szene, in der Fiete und Luca nackt in der Sauna zu sehen sind. Hilft diese Erfahrung auch dabei, sich vor der Kamera in solche körperlich intimen Situation zu begeben?

Leonard Scheicher:
Ich empfinde die physische Nacktheit hier nicht als Problem, denn sie gehört zu der konkreten Situation im Leben der Figur, die ich im Film verkörpere. Klar, natürlich gibt es Grenzen und es stellt sich auch immer die Frage: Worum geht es? Und was zeigt die Kamera und was nicht? In dem konkreten Fall geht es um zwei alte Freunde in der Sauna. Und die sind besoffen und nackt. Wenn ich weiß, das wird von der Kamera eingefangen, bin ich damit auch total d‘accord.

MYP Magazine:
Gibt es Situationen in Deinem Spiel, in denen Du das Gefühl hast, Dich dem Publikum gegenüber emotional nackt zu machen?

Leonard Scheicher:
Absolut! Das sind die Momente, in denen man komplett aufmachen kann. Das ist deutlich anstrengender, als sich physisch nackt zu machen. Es erfordert viel mehr Vertrauen und Mut – und vor allem die Bereitschaft, wirklich loszulassen. Mit Anspannung geht da gar nichts. Man muss bewusst in die Entspannung gehen, um sich dem aussetzen zu können. Aber genau das ist es auch, wofür ich es mache. Mein Schauspieler-Ich flüstert mir dann ins Ohr: Das ist es! Jetzt erzählst du vom Menschsein, genau dieses Gefühl kennen wir alle. Und du hast das große Privileg, das vor anderen ausüben zu dürfen.

»Es gibt unendlich viele Orte, an denen Dialog stattfinden kann.«

MYP Magazine:
In dem eben erwähnten Interview mit dem Movie-College hast Du gesagt: »Der Film ist eine Einladung, dass wir wieder mehr miteinander reden und an Orte gehen, wo wir aufeinandertreffen und einen Dialog führen können.« Was könnten das für Orte sein?

Leonard Scheicher:
Der Tanzkurs. Der Chor. Die Kirche. Das Fest der Freiwilligen Feuerwehr. Und natürlich auch die Sauna! Es gibt unendlich viele Orte, an denen man auf die unterschiedlichsten Menschen trifft und Dialog stattfinden kann. Wenn ich mich zurückerinnere an meine Kindheit, war das im Fußballverein oder Konfirmationsunterricht nichts anderes. Ich finde, das ist etwas, das wir uns auch als Erwachsene beibehalten können. Und ich persönlich freue mich besonders, wenn die Menschen kulturelle Einrichtungen wählen, um sich zu begegnen – wie etwa das Theater. Das ist dafür ein ganz hervorragender Ort.

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