Submission — Ute Orner

Tiefe Meere

19. Januar 2014 — MYP No. 13 »Meine Sehnsucht« — Text & Foto: Ute Orner

Egal wo sie gerade war oder was sie tat, ihre Gedanken schweiften immer wieder über das blaue Meer. Für sie gab es nichts Schöneres oder Gewaltigeres als dieses endlose Blau, das niemals still steht. Manchmal dachte sie an all die Toten, die tief unten auf dem Meeresgrund liegen. Ewig hin und her getrieben von der Strömung, durch ihr kaltes, nasses Grab. Lautlos und blass, eine stumme Armee. Sie empfand kein Mitleid für diese Toten, höchstens ein bisschen Neid, weil Sie ein Teil des Meeres sind. Für sie war es ein friedlicher Tod. Immer wenn Sie es zu Hause nicht mehr aushielt, lief sie zum Strand und beobachtete zusammengekauert die Wellen. Das Meer besaß eine so starke Anziehungskraft für sie, dass sie es nicht lassen konnte immer und immer wieder denselben Platz am Strand aufzusuchen und sich dem Meer auszuliefern.

Als sie wieder einmal am Strand saß und auf das Meer starrte, hatte sie das unbändige Verlangen ins Wasser gehen zu müssen. Normalerweise blieb sie immer am Strand, aber das Bedürfnis wurde so stark, dass sie das Gefühl hatte, sie würde ersticken, wenn
sie nicht ins Wasser ginge. Da sie keinen Badeanzug dabei hatte, beschloss sie, in Unterwäsche ins Meer zu gehen.
Anfangs war das Wasser etwas kalt, doch bald fühlte sie sich wohl und ließ sich auf dem Rücken treiben. Sie blinzelte direkt in die Sonne, die langsam unterging. Jedes Zeitgefühl war verloren gegangen und ohne auch nur einmal den Blick vom Himmel zu wenden, ließ sie sich weiter schwerelos von den Wellen tragen. Sie hörte auf zu denken, sie hörte auf ihren Körper zu spüren, sie hörte auf Mensch zu sein. Sie war ein Teil des Meeres geworden und das war der einzige Zustand, den sie ertragen konnte.

Erst als die Dämmerung schon weit fortgeschritten war, wagte sie in Richtung Strand zu blicken. Die wenigen Leute, die sich noch am Strand aufhielten, waren nur noch als verschwommene Punkte erkennbar. Sie erschrak, als sie realisierte wie weit sie bereits vom Strand entfernt war. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie unglaublich kalt es war. Sie richtete ihren kalten Körper auf und wollte in Richtung Strand schwimmen, als sie mit entsetzen feststellte, dass der Wellengang und die Strömung sie daran hinderten. Erst dachte sie, dass sie einen ungünstigen Moment erwischt hätte, um los zu schwimmen, aber nach einigen vergeblichen Versuchen kroch die Panik langsam in ihr hoch.

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und unternahm etliche weitere Versuche, sich dem Strand zu nähern, vergeblich. Ihr Blick war starr auf den Strand gerichtet, sie wagte es nicht sich umzublicken, weil sie wusste, dass dort nur ewiges Meer zu sehen war. Das Salz fing an ihren Körper zu zersetzen, alles brannte, aber vielleicht war es gar nicht das Salz, sondern ihre geschundenen Muskeln.

Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte sie nicht mehr, die Müdigkeit war größer als die Verzweiflung. Ihr Körper versagte. Das Meer hatte sie besiegt und sie überließ ihren Körper ohne Widerstand den Wellen. Das Rauschen des Meeres brauste sich in ihren Ohren zu einem unerträglich lautem Gebrüll auf. Immer und immer wieder baute sich eine neue Welle vor ihr auf, so dass sie abwechselnd den Strand und dann wieder die aufgetürmte Wassermasse sah. So schaukelte sie beinahe friedlich dahin. Sie stellte sich ihren Körper auf dem Grund des Meeres vor. Auf eine seltsame Art beruhigte sie dieser Gedanke und sie ließ es zu, dass ihr Körper das Bewusstsein verlor.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie zitternd am Strand und fremde Menschen beugten sich über ihren Körper. Zwei Strandbesucher hatten sie gesehen und die Küstenwache verständigt, die sie mit Hilfe eines Motorbootes aus dem Meer retten konnten. Sie war sich nicht sicher, ob sie enttäuscht oder überglücklich war.

Zur Beobachtung wurde sie ins örtliche Krankenhaus eingeliefert. Nach ein paar Stunden Bettruhe stellte sie fest, dass es im Krankenhaus gar nicht so anders war, wie draußen im Meer. Sie konnte nichts tun und ihr Körper schien nicht ihr zu gehören.

Langsam fragte sie sich, ob dieser hilflose Zustand nun für immer ein Teil von ihr geworden war, oder ob er, sobald sie wieder zu Hause war, wieder von ihr abgleiten würde.

Der Alltag kam schneller zurück, als sie es erwartet hätte. Nach zwei Tagen durfte sie das Krankenhaus verlassen und es war alles wieder beim Alten. Die Gespräche hatten denselben Inhalt wie davor und liefen exakt gleich ab, wie in einer Endlosschleife.

Nur eine Sache hatte sich geändert, es genügte ihr nicht mehr das Meer nur zu betrachten, sie ging jedes Mal hinein und ließ sich treiben.