Submission — Nataša Vučković

Pierres Geheimnis

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text & Foto: Nataša Vučković

Der Eiffelturm. Auf meinem Tisch, dem dunkelbraunen Holztisch aus Mahagoni im Wohnzimmer. Da steht er. Natürlich nicht der echte. Der wäre auch etwas zu groß gewesen. Aber eine maßstabsgetreue Miniaturausgabe davon. Wenn ich ihn ansehe, dann die Augen schließe und einen kurzen Moment abwarte, dann passiert etwas Wunderbares:

Auf einmal bin ich wieder mitten in Paris. Ich laufe an den vielen kleinen Ständen der Künstler und Buchverkäufer am Ufer der Seine vorbei. Laufe ich wirklich? Nein. Ich schlendere. Langsam. Ohne jede Eile. Hin und wieder bleibe ich stehen. Zum Beispiel bei Pierre. Pierre ist ein kleiner, hagerer Mann, der früher einmal sehr gut ausgesehen haben muss. Heute, mit seinen 83 Jahren steht er noch immer hier hinter seinem kleinen Stand. Er verschwindet fast hinter den hohen Stapeln von alten, gebundenen Büchern, die er dort feil bietet. Ein kurzes Lächeln, verschmitzt und freundlich, so wie Pierre gerne lächelt, wenn er ein bekanntes Gesicht entdeckt, huscht über seinen großen, breiten Mund, als ich an seinen Stand trete.

„Bonjour, Mademoiselle“, sagt er und schaut mich dabei mit seinen braunen, nicht zu eng zusammen liegenden Augen freundlich an. Pierre steht hier am Seine-Ufer seit mittlerweile 52 Jahren, wie ich bei meinem letzten Besuch einige Tage zuvor erfahren durfte. Es können auch schon 53 Jahre sein. Das ist ihm nicht so wichtig. Überhaupt hat Pierre ein sehr liebevolles Verhältnis zur Zeit. Alles, was er macht, ob er morgens seinen hellgrünen Holztisch aufbaut, auf dem die vielen mittlerweile ganz gelb gewordenen Bücher liegen, oder ob er einen neuen Kunden begrüßt, der wie zufällig an seinem Stand stehen bleibt; all das tut er mit Bedacht und ohne auch nur einen Anflug von Hektik.

Einmal habe ich ihn gefragt, was denn sein Geheimnis sei. Ich bewunderte seine unerschütterliche Ruhe und wohltuende Gelassenheit und hatte mir fest vorgenommen, dahinter zu kommen. Pierre zeigte sein schönstes Lächeln und sagte nur: „Geheimnis, Mademoiselle? Ich kämpfe nicht gegen die Sekunden, Minuten und Stunden, wie so viele andere Menschen. Die Zeit ist mein Freund. Ich komme gut mit ihr aus. Warum also sollte ich versuchen, sie zu besiegen?“

Dann öffne ich wieder die Augen und schaue noch eine ganze Weile den Eiffelturm auf meinem Holztisch an. Pierre hat Recht, denke ich dann und muss nun selber lächeln.