Submission — Lukas Leister

Fremde Wut

3. Mai 2014 — MYP N° 14 »Meine Wut« — Text & Foto: Lukas Leister

Dass er die Wut, die sich seit Wochen erst unmerklich langsam, dann unaufhaltsam schnell in ihm ausbreitete, irgendwann nicht mehr werde zurückhalten können, hatte er geahnt. Woher diese Wut kam, konnte er allerdings nicht sagen. Anfangs war er sich noch nicht einmal sicher, gegen wen oder was sich seine Wut richtete, und später war es ihm egal.

Das Blaulicht blendete ihn. Grelles Licht hatte er früher nur sehr schwer ertragen können, doch heute beruhigte es ihn. Auch die ständigen Lautsprecherdurchsagen, das Klirren zersplitternden Glases und das Geschrei derer, die hinter ihm standen, hätten damals mehr als Unbehagen in ihm ausgelöst. Hier und jetzt fernab von seinem gut bezahlten Job, dem geerbten Einfamilienhaus und den unerträglich freundlichen Schwiegereltern fühlte er sich weniger schlecht als sonst.

Es ging ihm wirklich nicht darum, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, oder darum, einem verlorenen Idealismus hinterherzujagen. Er war weder auf der einen noch der anderen Seite. Paul war auf der Suche. Und er war sich sicher, sie zwischen all den Vermummten und Uniformierten zu finden. Irgendwo in der Masse von Gesichtslosen, bei der ein Einzelner kaum mehr zu erkennen war, würde sie sein. Sie würde dastehen, unbeeindruckt von Wasserwerfern und Kieselsteinen, würde ihn anlächeln und zuflüstern: „Ich bin deine Wut.“