Submission — Ellie Garcia

Schmutziger Asphalt

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Ellie Garcia

Meine Nacht ist dunkel, ganz schwarz. Am liebsten sehe ich raus zum Himmel, zur untergehenden Sonne hinter den stählernen Glasbauten, die mir die Sicht nehmen. Ganz leise geht sie unter, nimmt ihre letzten Lichtboten und weiß bemalten Wolken mit. Die noch kalten Tropfen vom letzten Sommerregen funkeln wie Diamanten. Der Himmel tut so, als wüsste er nicht, dass die Sonne ohne eine Verabschiedung geht. Der Himmel wartet auf die Nacht, den Rücken zur Sonne gewandt, genau so wie ich hinter dem ewigen Fenster meiner eigenen Finsternis.
Und die Bühne ist leer für die Dunkelheit, die wie die Pest über den Horizont zieht, eine Schar wilder Pferde, die das Wolkenland erobern. Und schon ist sie da, meine Nacht: kalt, grausam, geheimnisvoll, ein stiller Eroberer.

Die Lichter leisten mir Gesellschaft, im Glauben sie könnten die Sonne ersetzen.
Das blasse Gelb auf dem Asphalt und mein überdimensionaler Schatten öffnen mir das Tor zu einer anderen Welt, zu einer, wo Dunkelheit regiert.
Ich sehe rauf zu den braunen Motten, die um die Lampe kreisen; die neue Sonne aus Menschenhand – täuschend künstlich.

Die roten Lichter der Bar färben mein Gesicht, während ich weiter gehe; weiter die Straße hinunter, vorbei an lauter und fremder Musik aus schallenden Boxen. Tausend Schritte, die mir entgegen kommen, Gesichter der Nacht, kalt, schmunzelnd, frei, anarchistisch. Sie lachen, sehen mich an, gehen weiter bis ans Ende und noch weiter hinaus, klettern auf die Dächer, springen von Haus zu Haus.
Meine Nacht hat tausend Gesichter, doch alle sind teuflisch. Das lange Grinsen und die leisen, hinterhältigen Schritte hinter mir, die fremden und doch bekannten Blicke, tief und endlos.
Die Nacht dauert lang. Je mehr ich auf die Uhr sehe, so länger kommt es mir. Niemand auf den Straßen, alles menschenleer. Sie alle schlafen, wie die Schiffe im Meer.

Da sehe ich sie: die vergessenen Gestalten des Tages, die Könige der Nacht; meiner Nacht.
Schneller als ich es bemerken kann, rasen sie knapp an mir vorbei mit ihren ausgeleierten Tops und den Sonnenbrillen, ihren schwarzen Kappen und mystischen Tattoos von alten heiligen Zeichen einer ausgestorbenen Kultur.
Sie rasen durch die Nacht, reiten auf dem Asphalt, laut, lauter als alles andere.
Im Licht der billigen Automaten springen sie mit voller Wucht, kehren zurück zum Boden, das Skateboard knallt, bricht jedoch nicht.
Niemand hört sie feiern, niemand sieht sie tanzen auf der einsamen Straße.
Ein Funken Ewigkeit in meiner endlosen Nacht. Ein wenig Hoffnung, dass man sie retten kann, die Nacht mit den Sternen und Motten.

Die Stunde wird später, die Zeiger gehen vorwärts. Die letzten Stunden, die ich noch hier verbringe, bis der Tag wieder in voller Pracht anbricht. Ich nehme mir frei, denn niemand fragt, wo ich war; niemand weiß, wo ich bin, wo ich sein werde nach dieser Nacht. Nicht einmal ich selbst. Also gehe ich weiter über die kaputten Ampeln und sehe denen zu, die gelb blinken. Es ist still, stiller als je zuvor und nur ein leichter Windhauch bewegt kurz die Blätter der toten Birke. Ich kann sie hören, die Motten und Heuschrecken. Doch aus der Ferne höre ich etwas anderes und es wird immer lauter, kommt auf mich zu.
Ein junger, betrunkener Revolutionär, der wild die Straße runter rennt. Er stößt mich weg mit einer Glasflasche in der Hand und rennt weiter. Ein paar aufgenähte Zeichen auf seiner Lederjacke, schwarz und blau im Morgenlicht. Noch wartend auf den Rest, auf die Jagenden, stehe ich neben der Ampel, lehne mich an. Doch es kommt niemand. Wovor ist er weggerannt, vor dem Ende der Nacht? Denn ich sehe die Morgensonne ganz langsam hinter den Gebäuden aufgehen. Ein erfülltes Lächeln auf meinen Lippen während ich hier sitze, auf dem warmen Stein und gen Osten blicke. Noch eine Nacht, so unbekannt und unbekümmert, unberührt, frei, original. Die Nacht geht weg aus der Stadt, doch lässt sie die Sterne und den Mond noch da. Denn sie wird zurückkehren.
Morgen noch einmal.
Immer.
Wir warten wie Soldaten des Tages, den ganzen Abend lang, bis sie uns erlöst.
Wir warten auf die Freiheit der Nacht, der Dunkelheit, der Stadt bis sie wieder in ihrer vollen Pracht erwacht.

Meine Nacht lebt mit mir, sie kann ohne mich, sie ist frei, eigen, wild.
Meine Nacht ist unerforscht, wo immer sie ist, verändert sie uns, mich, dich. Sie lebt in der Stadt, auf der Straße am liebsten, in Kneipen, in warmen Schlafzimmern, in noblen Clubs, sie lebt mit uns. Sie lebt in uns. Leise kommt sie aus ihrem Reich voll Licht und Dunkelheit, verweilt, breitet ihre schwarze Decke aus, genießt, verändert, beeinflusst, liebt, lacht, schreit, weint, läuft am Horizont, versteckt uns.
Ich schlafe nicht, denn die Dunkelheit meiner Nacht macht mir Angst.
Sie wartet und ist präsent, wenn du deine Augen zu machst. Sie sieht dir zu, wie du schläfst.
Sie wartet auf dich, auf deine Seele.
Komm mit uns.
Reiche meiner Nacht deine Hand.
Und wir werden sein,
wir werden singen, tanzen und springen auf dem schmutzigen Asphalt,
wenn niemand uns sieht und hört….in meiner Nacht.
Wir sind am Leben.
Wir sind frei.
Wir sind wach.