Submission — Benjamin Hanus

Die kleinen Dinge

3. Mai 2014 — MYP No. 13 »Meine Wut« — Text: Benjamin Hanus, Foto: Ines Heidrich

Ob ich wütend bin? Nein. Im Moment nicht. Im Moment liege ich auf einer Wiese in der Sonne, schwitze, leere ein Getränk nach dem anderen, esse gesalzene Pistazien, höre den Vögeln beim Singen zu und gebe mein Bestes diesen Text über Wut zu schreiben. Gar nicht mal so einfach bei der ganzen Harmonie, die mich hier zu umgeben scheint. Neben meinem Notizbuch macht sich eine Biene auf einer Löwenzahnblüte zu schaffen. Aufgeregt sitzt und brummt sie auf der gelben Blüte und sammelt fleißig den Blütenstaub ein. Gegenüber rollt, leise summend, eingepackt in eine Regenjacke und ausgestattet mit Schal und Mütze, ein Rollstuhlfahrer den Hügel hinauf. Und nebenan unterhalten sich zwei Männer, die sich augenscheinlich zufällig getroffen haben, über ihre Wochenendpläne. Für einen Augenblick verliere ich die Konzentration und vergesse warum ich hier liege. Ob ich wütend bin? Ich war selten entspannter.

Die Sonne versteckt sich hinter einer herannahenden Wolkenwand, die angrenzende Kirche spielt ein lautes Solo und die an- und abschwellenden Polizeisirenen lassen zum ersten Mal so etwas wie Ärger aufkommen. Na also, denke ich mir, jetzt kommen wir der Sache näher. Das Singen der Vögel hat sich zu einem sich überschneidenden Chaos aus Schreien und Pfeifen entwickelt. Reihenweise gezückte Handys, raschelnde Brötchentüten und der in meine Richtung durch die Luft wabernde Duft von Grillanzündern und verbranntem Fleisch, lassen meine innere Ruhe endgültig zerplatzen. Ob ich wütend bin? Ich denke ich mache unglaubliche Fortschritte.

Die Sonne lässt sich nun gar nicht mehr blicken und meine Blase, bis zum Anschlag gefüllt mit dem Inhalt von unzähligen geleerten Dosen, sendet in immer kleiner werdenden Abständen eindeutige Signale. Die von den herumliegenden Pistazienschalen und den klebrigen Resten der leeren Koffeingranaten angelockten Ameisen und die andauernd vor mir auf- und abziehenden Grillfraktionen geben meiner bereits mehrfach angezählten Laune den Rest. Mit einem beherzten Sprung stürzt sie sich vom Kap der schlechten Laune und schlägt mit einem leisen, monotonen Schnauben an einer ohrenbetäubend lauten Kreuzung auf.

Eine Gruppe von alten Männern wartet dort an einer roten Ampel darauf, dass diese auf Grün schaltet. Ihrer Unterhaltung entnehme ich, dass sie hier schon länger stehen. Mein Blick wandert ungeduldig an der Gruppe vorbei, bleibt für einen kurzen Moment im hämischen Licht der roten Ampel hängen und verhakt sich endgültig auf dem gelben, unbenutzten Ampelschalter.

Ich presse die Lippen aufeinander und versuche nicht die Beherrschung zu verlieren, als sich die Ampel, etliche Sekunden später, wie von Geisterhand dazu entschließt, uns mit Grün die Weiterreise zu gewähren und die Herren sich mit der stoischen Ruhe eines alten Berges schließlich in Bewegung setzen, um gemächlich die Straße zu überqueren. So langsam, dass die Ampel auf halber Strecke erneut ihre Meinung ändert, zurück auf Rot schaltet und die Männer im wahrsten Sinne des Wortes in einem unguten Licht erscheinen lässt. Begleitet vom Hupen und Fluchen der sich angestauten und wartenden Autofahrer, aber vollkommen unbeeindruckt, setzt die Gruppe ihre Reise auf der anderen Straßenseite fort und verschwindet schließlich im Licht der zurückgekehrten Abendsonne.

Verblüfft von soviel Gelassenheit, verharre ich nicht nur am Ort meiner Beobachtung, sondern ich lasse neben der langsam vor mir dahin fließenden Blechlawine, auch meine schlechte Laune vorbeiziehen. Ob ich wütend bin? Nein. Im Moment nicht. Im Moment stehe ich an einer roten Ampel und genieße die Ruhe.