Submission — Alina Wichmann

Innerlich laut

27. Oktober 2013 — MYP No. 12 »Meine Stille« — Text: Alina Wichmann, Foto: Lukas Leister

Meine Stille ist wie ein wild gewordenes Kind, das so laut schreit, bis es in ein Zimmer gesperrt wird, um sich zu beruhigen. Meine Stille hat keinen Boden und klettert manchmal die Wände hoch.

Meine Stille schweigt selten, und wenn sie es tut, reißt mich die blanke Panik hoch, um sich zu vergewissern, dass ich noch am Leben bin. Vielleicht ist das die Stille einer Mitt-Zwanzigerin und völlig normal? Oder sollte ich meine Mitte etwa schon gefunden haben?

Stille Menschen erscheinen mir so erhaben und weise. Sie trohnen über den kläffenden Schoßhündchen, die wieder zu irgendeinem Thema irgendeine belanglose Meinung ungefragt in den stillen Raum stellen. Meine Stille ist ein Schrei.

Meine Stille gleicht einem flachen Gewässer, in dem man ausrutschen könnte, um blöderweise zu ertrinken. In meiner Stille denke ich frei über all die Menschen, die mich umgeben. Ich sage ihnen Dinge, die ich mich sonst nie trauen würde. Was für eine große Nase ihr eh schon hässliches Gesicht entstellt oder dass ihr Eau de Toilette nach ranzigen Blumen stinkt. Meine Stille ist ein Dialog.

Meine Stille macht mir Angst. Wann denke ich eigentlich nicht? Ich rede im Schlaf, ich rede, während ich denke, ich rede, wenn ich spreche, und warum sollte ich dann still sein?

Stille ist eine Illusion. In meiner Stille sage ich dem Kerl, in den ich schon so lange heimlich verliebt bin, dass ich mir Kinder mit ihm vorstellen könnte.

In meiner Stille bin ich ungefiltert. Kennen meine Freunde mich still? Kennt mich überhaupt jemand? Vielleicht ist Schreiben ein Ausdruck meiner Stille. In meiner Stille bin ich mir nie sicher. Es gibt mindestens eine Trilliarde Möglichkeiten, über etwas nachzudenken — eine Perspektive zu wählen. Wie sollte man da denn still sein können?

Wenn ich still bin, bin ich tot. Ich glaube nicht an die Stille. Ich glaube ehrlich gesagt auch nicht daran, dass jemand, der meditiert, in dem Moment an nichts denkt. Vielleicht denkt er die ganze Zeit an: „Ich denke an nichts, ich denke an nichts, ich denke an nichts.“ Denkt er dann wirklich an nichts?

In meiner Stille gibt es keinen Sinn. Sonst hätte ich doch das Bedürfnis, den Sinn zu kommunizieren. Mit wem rede ich hier eigentlich? Ich bin immer häufiger für andere still — doch innerlich noch immer laut. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen für eine Mitt-Zwanzigerin. Meine Stille nicht zu kennen, lässt mich nach ihr suchen und das heißt: Ich bin am Leben.