Portrait — Sigrid Grajek

Lebe, wie es dir passt!

Sie lebte offen lesbisch und soff am liebsten Korn: Claire Waldoff war in den 1920ern der Star des Berliner Varietés. Kabarettistin Sigrid Grajek verwaltet ihr künstlerisches Erbe. Wir sprechen über die Parallelen zweier außergewöhnlicher Frauenleben.

22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Interview & Text: Katharina Weiß, Fotos: Manuel Puhl

Sigrid Grajek hat einen Vogel. Eigentlich sogar drei. In ihrer Wohnung im Berliner Bergmannkiez lebt sie zur Zeit mit Fideli und Sir Francis, der wiederum Flattermann Freddie aus dem Fenster vertrieben hat. Letzterer war so nahe am Talent von Queen-Frontmann Freddie Mercury dran, wie es ein Kanarienvogel nun mal sein kann. „Freddie war ein Goldstück, er ist mir damals quasi zugeflogen. Dafür ist Sir Francis ein richtiger Rotzlöffel. Ich wollte eines Tages bei Karstadt Futter für die anderen beiden holen, als ich diesen knallorangenen Schlingel mit Inbrunst an seinen Gitterstäben rütteln sah. Zwei Tage später habe ich ihn dann für 34 Euro rausgehauen aus dem Bunker.“

»Ich habe mich direkt furchtbar in Berlin verknallt – da ging es mir genau wie Claire.«

Wer der Kabarettistin Sigrid Grajek zuhört, stellt schnell fest: Alle ihre Geschichten leuchten. Egal, ob vom Glanz einer vergangen Ära angestrahlt oder mit einer ordentliche Portion verschrobenem Humor bestäubt – hier trifft herzlicher Ruhrpott-Charme auf angelernte Berliner Schnauze, ein Amüsement par excellence. Mit diesem Geheimrezept schaffte es schon hundert Jahre zuvor eine junge Dame aus dem „Rheinisch-Westfälischen Industriebezirk“ auf die ganz großen Bühnen Berlins: Genau wie Sigrid Grajek kommt auch Claire Waldoff aus dem Westen, die Vorfahren der beiden Damen malochten in der Kohle. Sigrid folgte dem Ruf der Hauptstadt mit 20, Claire war damals 21. „Ich habe mich direkt furchtbar in Berlin verknallt – da ging es mir genau wie Claire,“, erzählt Sigrid Grajek, während wir unsere Mäntel über die Kleiderbügel der Bar Ludwig hängen.

Vielleicht hat Claire Waldoff selbst einmal hier ihren geliebten Korn getrunken, denn seit 1909 war die Kiezkneipe durchgehend als gemütliches Absturzlokal für die Neuköllner Nachbarschaft in Betrieb. „Als ich den Laden übernommen habe,“ erzählt Maurus Knowles, der mit seinem Partner seit Juni 2016 das Ludwig betreibt, „habe ich durchaus ein paar historische Funde gemacht. Im Hinterzimmer verbargen sich noch recht gruselige Zeitungsreste. Stellenanzeigen aus den Jahren 1933/34, die alle eine Abkürzung enthalten: „(mit nat. Gesi.)“ – gesucht wurden nur Arbeiter ´mit nationaler Gesinnung`. Da liefen mir schon ein paar Schauer über den Rücken.“ Der Laden wurde nie grundlegend saniert, sondern immer einfach nur weitergegeben. Teile der Einrichtung, wie zum Beispiel die verspiegelte Theke, sind einbetoniert und stehen vermutlich seit dem Bau des Hauses an ihrem Platz. Einige Überraschungsfunde lassen auch auf eine Multifunktionalität des Ortes schließen: „Ich habe in einigen durchsichtigen Plastiktüten nicht ganz saubere Damenunterwäsche gefunden.“, fügt Maurus Knowles hinzu, während er uns ein delikates Schnäpschen kredenzt. Mit seinem vielgestaltigen Programm aus Performances und Dragshows, Livemusik und Impro-Abenden, Filmscreenings und Video-Art, Lesungen und Buchpräsentationen und mit wechselnden Ausstellungen zeitgenössischer Kunst wäre das Ludwig sicherlich auch für die junge Claire Waldoff ein zweites Wohnzimmer geworden.

Die widerspenstige junge Frau, als eines von über zehn Kindern in ein proletarisches Milieu geboren, zeigte früh ihren eigenen Kopf. Sie setzte durch, an einem der ersten Mädchengymnasien im Deutschen Reich, das von Frauenrechtlerin Helene Lange in Hannover gegründet wurde, Kurse belegen zu dürfen. Schon früh begann die unprätentiöse Claire mit der „Revolverschnauze“, sich Rechte herauszunehmen, die damals für Frauen nicht vorgesehen waren. Ihr ursprüngliches Ziel, Medizinerin zu werden, wurde schnell verworfen, als sie in Hannover auf Tourneeschauspieler traf und sich kurzerhand der Truppe anschloss.

Claire Waldoff lebte einen Entwurf des Frauseins, der damals mindestens revolutionär war.

Mit den Füßen in kaltem Kaffee – damals herrschte der Aberglaube, dass dies wach hält – lernte sie nächtelang Texte und eignete sich das Handwerk der „Schmiere“ an. Lukrativ war dieses Lotterleben freilich nicht. Ohne eine Mark in der Tasche machte sie sich 1906 auf, um Berlin zu erobern. Im keuschen und gesitteten Berlin des Kaiserreichs fiel diese bräsige Person mit der riesigen Klappe von Anfang an auf. Umgeben von zierlichen Damen mit Spitzenhandschuhen und gesenktem Blick lebte sie somit einen Entwurf des Frauseins, der damals mindestens revolutionär war. Was im bürgerlichen Leben nicht möglich war, konnte zumindest im Künstlermilieu ein Zuhause finden – und so fand Claire Waldoff zum Kabarett. Im Theater an der Potsdamer Straße trat sie im Etonboy-Anzug auf, was ihr eigentlich untersagt worden war. Für die kaiserliche Zensurbehörde galt eine Frau im Anzug als unschicklich, ganz zu schweigen von Bühnenauftritten solcher Art nach 23 Uhr.

Doch Claire Waldoff sorgte nicht nur mit ihrer Kleiderwahl für einen Flüsterskandal. Auch das Liedgut, mit dem sie ihr Publikum beglücken wollte, wurde wegen antimilitaristischer Tendenzen verboten. Kurz vor dem Auftritt legte ihr deshalb der befreundete Komponist Walter Kollo einen Alternativtitel vor, der davon handelt, wie sich ein liebestoller Erpel mit einem sogenannten Schmackeduzchen (neudeutsch für Rohrkolben) vergnügt. Die Pflanze hatte zuvor allerdings eine heiße Affaire mit einem Schwan gehabt, die sie nicht ganz unbefleckt überstanden hatte. Diese polyamore Dreiecksgeschichte samt unehelichem Nachwuchs wäre von der Zensur natürlich als zutiefst unmoralisch bewertet worden, hätte der Komponist sie im Reich der Menschen angesiedelt. Durch den metaphorischen Griff ins Tierreich wurde das Stück aber durchgewinkt – und Claire Waldoff wachte am Tag nach der Vorstellung als neuer Star am Varieté-Himmel auf. Von da an zierten Plakate mit ihrem Konterfei und dem Slogan „Der Stern von Berlin“ die Vergnügungsmeilen der Stadt.

Sigrid Grajek hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Erbe dieser außergewöhnlichen Künstlerin für die Nachwelt zu visualisieren. „An Marlene Dietrich im Anzug erinnern sich alle, weil sie für ewig auf die Leinwand gebannt wurde. Von Claire gibt’s nur körnige Schwarzweißaufnahmen. Und von wem es heute keine YouTube-Videos gibt, wird vergessen.“

Sich das Kostüm der Claire wie eine zweite Haut anzuziehen, war jedoch eine ordentliche Herausforderung für Sigrid Grajek: „Das sind unglaublich große Schuhe.“ Die Künstlerin entschied sich bewusst dafür, nicht den ikonischen, feuerroten Bubikopf-Schnitt von Claire Waldoff zu imitieren, sondern mit ihrem eigenen Kopf das Werk Legende aus den 1920ern zu interpretieren. Wie ikonographisch das Wirken der Waldoff in einer ganzen Generation nachwirkte, erfuhr Sigrid Grajek bei einer ganz besonderen Begegnung: Als sie vor zehn Jahren ihre Premiere als Claire Waldorf feierte, wurde sie kurz danach zum Radiointerview gebeten. Als zweiten Gast hatte der Sender einen alten Herrn eingeladen, der sich mit Rollator langsam ins Studio bewegte. Im Laufe der Aufzeichnung stellte sich heraus, dass ebendieser Herr zu seinen Teenagerzeiten die berühmte Claire Waldoff im Varieté Wintergarten – das ja bis heute noch existiert – bestaunen durfte. Sein Geselle hatte Karten über die Gewerkschaft bekommen und schenkte dem jungen Burschen das allererste Theatererlebnis seines Lebens.

„Und als dieser alte Mann, der eben noch so hinfällig wirkte, mit einer ausladenden Gestik vom dem Moment erzählte, als Claire die Bühne betrat, wurde mir klar, was für eine unglaubliche Begeisterung diese Frau ausgelöst haben muss. Er beschrieb, wie das Publikum unter reißendem Applaus aufsprang – und dabei stand er selber auf. Er durchlebte diese Szene noch einmal und war – ob dieser Erinnerung – energetisch total geladen. Kaum war er mit der Erzählung fertig, sackte er wieder in sich zusammen. Aber der Moment wirkte nach: Noch Jahrzehnte später haut es die Leute vom Stuhl, wenn sie sich an Claire Waldoff erinnern.“

Die Erinnerungen an die hochkomplexe Emotionalität jener Zeit, in der Claire Waldoff wirkte, ist dabei ein ständiger Begleiter: Sinnbildlich steht sie für die goldenen 20er, „die Zeit davor, in der alles noch gut war.“ Sigrid Grajek erzählt von einem jüdischen Pärchen, das bei ihr in der ersten Reihe saß und quasi eine ganze Vorstellung lang weinte. „Ich musste lange mit mir hadern, ob ich das überhaupt darf. Ob ich das Recht habe, vor diesem Hintergrund überhaupt Claire Waldoff interpretieren zu können. Aber diese beiden meinten: ‚Sie müssen sogar!’ Diese Geschichten dürfen nicht vergessen werden.“, erzählt Sigrid Grajek.

Fast immer, wenn die Kabarettistin in ihrem Waldoff-Bühnenprogramm das Datum des Berliner Bombardements nennt, stehen den ältesten Besuchern im Publikum Tränen in den Augen. In der Nacht vom 22. auf dem 23. November 1943 starben tausende Menschen und Hunderttausende wurden obdachlos. Auch Claire Waldoff verlor in dieser Nacht ihre Berliner Wohnung.

Mit 16 teilte Sigrid Grajek ihrem Umfeld mit, dass sie Mädchen liebt – 1980 in der Provinz des Dortmunder Umlands ein einsames Schicksal.

Wie schmerzlich die Erfahrung ist, kein Zuhause mehr zu haben, kann Sigrid Grajek nachfühlen, wenn auch auf eine vollkommen andere Art und Weise. Mit 16 teilte sie ihrem Umfeld mit, dass sie Mädchen liebt – 1980 in der Provinz des Dortmunder Umlands ein einsames Schicksal: „Heute ist meine Mutter meine größte Unterstützerin, aber damals hatte sie kein Verständnis. Ich komme aus einem alkoholisierten Gewalthaushalt mit Depressionshintergrund, das war alles ziemlich scheiße bei uns. Meine Mutter war einfach komplett überfordert. Die Trennung von meinem Vater war gerade durch, alles war furchtbar und dann kam ich noch mit meinem Coming-out, das war einfach zu viel.“, sagt Sigrid Grajek. Ihr blieb nur übrig, sich die Jacke zu schnappen und zu gehen.

Zuerst schlief sie bei Freunden, die sie in Dortmund kennengelernt hatte, wo es eine Frauengruppe mit Lesbenzentrum gab. Danach zog sie, noch minderjährig, in ein besetztes Haus. Drei Tage nach ihrem 18. Geburtstag wurde dieses von der Polizei geräumt – und Sigrid wurde verhaftet, da sie ihr neues Zuhause nicht schon wieder verlieren wollte. An die Stunden hinter Gittern erinnert sie sich noch genau: „Die Akustik in dem Gefängnis war gut, da habe ich viel gesungen.“ Bei der Gerichtsverhandlung verteidigte sie sich selbst. „Ich hab’ denen gesagt, wie es war. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt alleine in Dortmund keine Wohnung bekommen und zuhause hatte ich niemanden. Dort im besetzen Haus wurde ich zum ersten Mal so angenommen, wie ich war. Die haben auf mich aufgepasst! Zudem konnte ich nachweisen, dass ich nach der Arbeit zur Abendschule gegangen bin, um mein Abitur nachzuholen.“

Die Richter hatten Mitgefühl, sie kam mit einer jugendrichterlichen Ermahnung davon. Arbeit, das hieß für die junge Sigrid Grajek vier Jahre lang: Akkordarbeit in der Fabrik, nicht als Studentenjob, sondern als langfristige Perspektive. Eine prägende Zeit. Vor allem die Unterstützung der anderen Fabrikarbeiterinnen half der jungen Frau. „Die waren unglaublich solidarisch.“, erzählt sie in dankbarem Tonfall. „Alle diese Damen saßen dort fest, weil ihre Biografien so waren, wie Frauenbiografien zu jener Zeit eben oft waren. Keine von denen wollte dort bleiben, aber sie haben es nie geschafft zu gehen. Deshalb haben die mich regelrecht zur Schule getreten.“

Von der Fabrik in Dortmund konnte sie 1983 nach Berlin zu Siemens wechseln. Die angehende Schauspielerin arbeitete häufig mit einer Neuköllner Arbeiterin namens Uschi zusammen, die ihr viel Unterstützung und eine ganz besondere Bitte zukommen ließ: „Bitte mach’ immer nur Sachen, die wir auch verstehen.“ Seitdem hangelte sich die Kabarettistin immer an der Richtschnur entlang, Kunst zu machen, die auch von Menschen ohne größerem kulturellen Kapital verstanden wird. „Das bin ich meinen Kolleginnen auch schuldig!“

Der Einstieg ins Showbusiness gestaltete sich für die junge Künstlerin schwierig. Gefragt waren hübsche Gretchen, doch Sigrid Grajek waren Kleider und Koketterie ein Graus. Bereits als Sechsjährige hatte sie einen riesigen Zoff mit der Mutter, da sie zur Schule ihre Hose anziehen wollte: „In den 60er Jahren gingen Mädchen im Kleid zur Schule, Punkt.“ Doch sie setze sich durch und musste nur noch ein einziges Mal im Kleid erscheinen – zur heiligen Kommunion, ihre Eltern waren Katholiken. Später rieten ihr Regisseure: „Du musst deine Weiblichkeit betonen, schmink dich doch mal.“

„So wie ich bin – als rustikale Frau –, kam ich in den 80ern, 90ern gar nicht an, als ich meinen Beruf begonnen habe. Als ich mir dann mal eine Dauerwelle gemacht und mich dezent geschminkt hatte, wurde ich von einer Schauspielagentur, bei der ich mich beworben hatte, prompt für eine Drag Queen gehalten. Also kamen die Haare sofort wieder ab, ich bin halt anders – und so musste ich damit leben, dass ich im klassischen Theater meine Schwierigkeiten hatte. So bin ich alte Butch dann eben im Kabarett gelandet – genau wie Claire.“, erzählt Sigrid Grajek.

Es fällt überhaupt nicht schwer, das zu glauben. Doch gleichzeitig erscheint es wahnsinnig eigenartig, dass wir in der deutschen Kulturlandschaft so viele Damen à la Veronica Ferres haben und so wenige Frauen wie Sigrid Grajek. Dabei ist es gar nicht leicht, den Blick von ihr zu lösen. Ihre Mimik hat etwas Anziehendes, das über reine Begehrlichkeit hinausgeht. Ihre raue Stimme ist so klar verständlich, dass man stundenlang zuhören könnte.

»Wenn ich auf der Bühne stehe, dann spüre ich das Verstreichen der Zeit nicht...«

Dass einen dieses freie Künstlerleben fernab der konventionellen Karriereleiter kaum zu Krösus werden lässt, liegt nahe. „Ich lebe sehr am untersten Ende der Einkommensabteilung. Arbeitslos gemeldet war ich aber nur zwei Monate meines Lebens, im Jahr 1983. Ich habe es immer geschafft zu improvisieren und durchzukommen. Bin quasi mit ‘ner Bohrmaschine zur Welt gekommen!“, erzählt Sigrid Grajek ohne Reue. In den Zeiten, in denen sie nicht von ihrem Beruf leben konnte, arbeitete sie als Handwerkerin und renovierte Frauenhäuser oder Privatwohnungen. „Je älter man wird, desto beschwerlicher wird das natürlich. Ich wollte mit diesem Beruf aber nie reich werden. Reich werden oder gar berühmt ist für mich vollkommen uninteressant. Mir ging es immer darum: Wenn ich auf der Bühne stehe, dann spüre ich das Verstreichen der Zeit nicht…“

Genau diesen Reiz – vom Widerstand gegen alles Vergängliche, vom Widerstand gegen Norm und Langeweile – verströmt die Ära der Claire Waldoff bis heute. Claire kämpfte sich mit der Machete durch den Großstadtdschungel und ebnete den Weg für viele andere Frauen. Was der Dandy Christopher Isherwood für die homosexuellen Männer war, stellte Claire Waldoff für die urbanen Frauen ihrer Generation da. Mit ihrer großen Liebe Olga von Roeder – beide blieben über 40 Jahre, bis zum Tod, beieinander – zeigte sie sich häufig im berühmten Bermuda-Dreieck: Narrenfreiheit zwischen der Bülowstraße und dem Winterfeldtplatz.

Ihre Damenrunden waren legendär. Einmal hatte sie zum Fest geladen und die berüchtigte Bowle „Rio de la Plata“ aufgetischt, eine wilde Mischung aus Champagner und Schnaps. Als die beschwipste Gesellschaft gerade zum Glücksspiel übergegangen war, kam eine Lieferung eleganter Seidenunterwäsche des Kaufhauses Wertheim an. Claire Waldoff ging der monetäre Einsatz aus. Sie setzte kurzerhand die exquisite Lieferung aufs Spiel – und verlor ihre gesamte neue Unterwäsche.

Wenn sie nicht gerade in ihrer Wohnung im Bayerischen Viertel arbeitete und feierte, ging sie flanieren. Die Motzstraße war ihre Meile. Mit Marlene Dietrich besuchte sie die beliebten Travestie-Shows im El Dorado. Am Häufigsten war sie vermutlich im Damenclub Pyramide, der sich im dritten Hinterhaus in der Schöneberger Schwerinstraße traf. Für 30 Pfennig Eintritt konnte man hier mit Nackttänzerin Anita Berber einen Absacker trinken, es wurde wild geschwoft und gesoffen.

In ihren Erinnerungen schreibt Claire Waldoff höchstselbst über diese Zeit: „Man sah bekannte Maler von der Seine; und schöne elegante Frauen, die auch mal die Kehrseite von Berlin, das verruchte Berlin kennenlernen wollten; und verliebte kleine Angestellte; und Eifersüchteleien gab’s und Tränen am laufenden Band; und immerzu mussten die Pärchen verschwinden, um ihren Ehezwist draußen zu schlichten. Zum soundsovielten Male ertönte im Laufe des Abends die berühmte ‚Cognac-Polonaise‘, die man auf dem Tanzboden kniend und mit dem gefüllten Cognac-Glas vor sich zelebrierte.“

Die Kabarettistin war keine Aktivistin im eigentlichen Sinne, sie stellte keine politischen Forderungen oder zettelte Revolutionen an. Sie lebte einfach ganz selbstverständlich so, wie es ihr passte. „Und das“, findet Sigrid Grajek, „ist manchmal das Größte, was du machen kannst.“