Portrait — Jonathan Berlin

»Es gibt zu wenig Utopien«

Schauspieler Jonathan Berlin geht es um die großen Fragen, und das nicht nur in seinen Rollen. Mit uns hat er darüber gesprochen, warum es wichtig ist, sich gerade als Künstler zu positionieren – und weshalb es viele kleine Utopien braucht, um die Welt zu verändern.

6. Februar 2019 — MYP N° 24 »Morgen« — Text: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Als Jonathan Berlin am 14. September 2018 auf der Bühne des Berliner Zoo Palast stand, zitterte seine Stimme. Gerade hatte er den Deutschen Schauspielpreis in der Kategorie „Nachwuchs“ gewonnen, für seine Rolle im Film Die Freibadclique von Friedemann Fromm. Das deutsch-tschechische Drama, das auf dem gleichnamigen Roman von Oliver Storz basiert, spielt im Sommer 1944 und erzählt die Geschichte von fünf Schulfreunden in Schwäbisch-Hall, die während ihrer Ferien als Hitlerjungen an die Westfront geschickt werden.

Die Stimme des 24-jährigen Schauspielers zitterte jedoch nicht wegen der besonderen Auszeichnung, die er gerade erfahren hatte – jedenfalls nicht hauptsächlich. Sie zitterte auch nicht wegen der vielen Berühmtheiten, die vor ihm saßen, jene Granden des deutschen Schauspielbetriebs, die ihm selbst jahrelang Vorbild waren und nun gespannt an seinen Lippen klebten. Der eigentliche Grund für Jonathans Anspannung lag in den Ereignissen des Sommers, und zwar nicht dem von 1944, sondern dem des Jahres 2018, als die Bilder der gewalttätigen Ausschreitungen in Chemnitz und anderswo nicht nur durch die Republik, sondern um die ganze Welt gingen.

Und so zog Jonathan Berlin einen sorgfältig zusammengefalteten Zettel aus seinem Jackett und verlas einige Zeilen, die er sich vorher gut zurechtgelegt hatte. Er eröffnete seine Rede mit der Feststellung, dass er es während des Freibadclique-Drehs im Jahr 2016 nicht für möglich gehalten hätte, dass in genau demselben Land, in dessen dunkle Geschichte er mit seiner Rolle eingetaucht war, wieder Hetzjagden auf Ausländer stattfinden würden. Dass wieder jüdische Restaurants überfallen würden. Und dass wieder unverhohlen Hitlergrüße gezeigt würden.

»Eure Politik von Spalterei, Ignoranz und Rassismus, das ist die Mutter aller Probleme.«

Je länger der junge Schauspieler seine Notizen vorlas, desto stärker wuchs das Zittern seiner Stimme zu einem festen Beben, desto bestimmter wurde sein Blick, desto kontrollierter wurde seine Gestik. Und bevor er die Bühne mit seinem wohlverdienten Preis verlies und vom Publikum frenetisch gefeiert wurde, beendete er seinen Vortrag mit einem Wunsch: dass es ihm – und allen Kunstschaffenden – gelingen möge, etwas dazu beizutragen, „dass sich dieser Teil der Geschichte nicht wiederholt und wir mit unserem Schaffen den Gaulands, Weidels und Seehofers dieses Landes immer wieder zeigen: Eure Politik von Spalterei, Ignoranz und Rassismus, das ist die Mutter aller Probleme.“

Einige Wochen später. Wir treffen Jonathan im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, genauer gesagt in der Luxus Bar. Die kleine Bar, das sollte man zur Aufklärung sagen, hat nichts mit Luxus zu tun, jedenfalls nichts mit weltlichem oder monetär irgendwie messbarem. Ihr Luxus besteht vielmehr darin, dass sie unprätentiös ist und nichts fordert, weder Status noch Herkunft noch Lebenslauf. Dazu kommt, dass sie trotz ihrer überschaubaren Größe jedem Gast einen gewissen Raum lässt, ohne dabei jemals distanziert zu sein.

»Ich glaube an die Stimme der Künstler, aber wir müssen sie auch nutzen.«

Auf seine Rede beim Deutschen Schauspielpreis hatte sich Jonathan Berlin genau vorbereitet – es war ihm geradezu ein Bedürfnis, sich dort zu äußern. Denn gerade bei Die Freibadclique, so erzählt er uns, hätte er Oliver Storz und die Figur verraten, wenn er dazu zwei Wochen nach Chemnitz nichts gesagt hätte. Dem jungen Schauspieler, der im letzten Jahr immer wieder in großen deutschen Fernsehproduktionen zu sehen war, ist es ein großes Anliegen, sich zu gesellschaftlichen und politischen Missständen zu verhalten, und zwar deutlich und wahrnehmbar. Das fordert er nicht nur von sich, sondern auch von seinen Mitmenschen, insbesondere von Kolleginnen und Kollegen. Er habe oft den Eindruck, dass in der Branche stets betont werde, wie wichtig manche Filme hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen oder politischen Bedeutung seien – aber dass man sich meist nicht wirklich positioniere oder entsprechend verhalte, wenn zu einem Projekt dann tatsächlich ein aktueller politischer Bezug sichtbar werde. „Gerade das finde ich aber entscheidend“, sagt er. „Ich glaube an die Stimme der Künstler, aber wir müssen sie auch nutzen.“

Jonathans Persönlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass er immer genau darauf achtet, dass in dem Raum, den er betritt, noch genügend Platz für andere ist.

Bereits eine Woche vor unserem Gespräch mit Jonathan erklärte uns ein befreundeter Schauspielkollege, dass der 24-Jährige jemand sei, der sich traue, eine Haltung zu haben. Diese Äußerung war als großes Kompliment gemeint. Aber leben wir wirklich in Zeiten, in denen man sich so etwas wie Haltung trauen muss?

Für das Gros der Menschen in unserer Gesellschaft würde Jonathan diese Frage tatsächlich mit Ja beantworten – leider, wie er sagt. „Natürlich muss man dafür etwas Mut aufbringen. Aber mir wurde beigebracht, nach diesem Mut auch immer wieder aufs Neue zu suchen.“ Aufgewachsen ist Jonathan im kleinen Städtchen Günzburg bei Ulm, beide Eltern sind evangelische Pfarrer, der Großvater ebenso. Übermäßig fromm sei er zwar nicht erzogen, aber generell sei in seiner Familie sehr viel und lebendig kommuniziert worden, erklärt er. „Ich glaube, ich bin da durch den Beruf meiner Eltern mit vielen verschiedenen Themen in Berührung gekommen, die einen schon irgendwie prägen.“ So sei es beispielsweise völlig normal gewesen, dass Obdachlose zum Pfarramt kamen und nach einer Spende fragten. Oder dass das Thema Tod in der Familie so alltäglich war – durch die regelmäßigen Beerdigungen, die beide Eltern aus Berufsgründen zu vollziehen hatten. So war es für Jonathan von Kindesbeinen an selbstverständlich, mit anderen Menschen zu diskutieren und sich im offenen Gespräch zu begegnen.

Irgendwie passt der Schauspieler ganz gut in das charakteristische Ambiente der kleinen Luxus Bar, das wird bereits nach wenigen Minuten deutlich. Es heißt ja, dass es Menschen gibt, die über so viel Ausstrahlung verfügen, dass sie damit einen ganzen Raum füllen können, sobald sie ihn nur betreten. Bei Jonathan liegen die Dinge etwas anders. Wer ihn im persönlichen Gespräch erlebt, wer seine Äußerungen in den sozialen Netzwerken verfolgt und wer sich mit dem Charakter seiner Rollen befasst, hat das Gefühl, dass sich Jonathans Persönlichkeit eher dadurch auszeichnet, dass er immer genau darauf achtet, dass in dem Raum, den er betritt, noch genügend Platz für andere ist – damit sie atmen und sich entfalten können.

Ohnehin hat man den Eindruck, es mit einem jungen Mann zu tun zu haben, den ein unbeirrbarer Sinn für Gerechtigkeit durchs Leben führt. „Vielleicht hat das in der Schule begonnen…“, überlegt er. „Wenn es dort Stress oder ausgrenzende Tendenzen gab, habe ich einfach versucht, die Klasse zusammenzubringen und manchmal auch zu verteidigen.“ Das sei übrigens, so findet er, auch eine der wichtigsten Aufgaben des Schauspielerberufs: dass man es schaffe zu verbinden. Bei Theater oder Film gehe es auch um ein besonderes Erleben – wenn man zusammen im Publikum sitze und einer Geschichte oder Figur zuschaue. „Das kann einen wirklich großen gemeinschaftlichen Moment erzeugen, den es sonst nur selten gibt,“ betont Jonathan.

Dass er es mit dem Weltverbessern auch mal übertreibt, gibt er grinsend zu. Mit 16 habe er plötzlich eine Phase gehabt, in der er dachte, große globale Zusammenhänge durchschauen zu können. Von heute auf morgen entschloss er sich, nur noch Fair Trade zu kaufen und Vegetarier zu werden. Insgesamt sei er damals sehr dogmatisch unterwegs gewesen und dabei vielleicht auch etwas übers Ziel hinausgeschossen, erklärt der 24-Jährige rückblickend auf seine Jugend, aus der er optisch gar nicht so sehr entwachsen zu sein scheint. Dennoch sei es ihm nach wie vor sehr wichtig, wach zu sein, wie er im Verlauf unseres Gesprächs immer wieder betont.

»Vermutlich ziehen einen gerade die Figuren an, die von ähnlichen Konflikten und Themen angetrieben werden wie man selbst.«

Diese Wachheit hat Jonathan Berlin auch mit seinen letzten Fernsehrollen gemeinsam – der Figur des 15-jährigen „Onkel“ in Die Freibadclique sowie dem Charakter Edgar Bendler im Drama Kruso, das Ende September 2018 in der ARD ausgestrahlt wurde. Auch dieser Film basiert auf einem gleichnamigen Roman: In dem Buch von Lutz Seiler geht es um die Freundschaft zweier Männer, die sich zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR auf Hiddensee begegnen. Edgar bewundert Kruso für dessen Utopie von Freiheit – Krusos Mission sei es, so heißt es im ARD-Pressetext, den Republikflüchtlingen und Systemüberdrüssigen seine Idee einer inneren Freiheit nahezubringen und sie vor dem Tod in der Ostsee zu bewahren. Dementsprechend war Jonathan in beiden Filmen in Rollen zu sehen, die bis zum Äußersten für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. „Vermutlich ziehen einen gerade die Figuren an, die von ähnlichen Konflikten und Themen angetrieben werden wie man selbst“, erklärt der junge Schauspieler.

Auch wenn Jonathan betont, dass er sich die Rollen natürlich oft nicht aussuchen könne, sind es immer wieder die gesellschaftspolitisch relevanten Themen, Stoffe und Figuren, in die er als Schauspieler eintaucht. So war er beispielsweise im Januar 2015 im ZDF-Dreiteiler Tannbach – Schicksal eines Dorfes zu sehen, in dem er einen identitätssuchenden Grenzsoldaten spielt. Die TV-Serie handelt von einem fiktiven Dorf, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ost und West geteilt ist und dessen Grenze ganze Familien voneinander trennt. Zwei Jahre später übernahm Jonathan im Kinofilm Schneeblind die Rolle eines erblindenden 16-Jährigen, der mit seinem Vater, einem ehemaligen SS-Offizier, im Kältewinter 1946 auf der Flucht vor den Alliierten durch den verschneiten Schwarzwald zieht.

Wer sich wie Jonathan Berlin mit so bedeutungsschweren Stoffen auseinandersetzt und versucht, mit seinen Figuren komplexe Inhalte und Situationen anfassbarer und verständlicher zu machen, stößt immer wieder an seine Grenzen – nicht nur an physische, sondern auch an mentale. „Wenn man wie für Die Freibadclique vier Nächte hintereinander bei niedrigen Temperaturen mit Regenmaschinen dreht, geht das schon an die Reserven.“ Darüber hinaus sei es beispielsweise auch ein seltsames Gefühl, in einer Rolle die Uniform der Hitlerjugend tragen zu müssen. Aber in einem solchen Fall, so erklärt Jonathan, könne man für die Figur gut die eigene Haltung nutzen – denn wie er selbst würde sich auch der Charakter „Onkel“, den er in Die Freibadclique spielt, diese Uniform am liebsten vom Leib reißen, da sie all seinen Werten widerspricht. Umso mehr habe er sich daher – als Privatperson und in seiner Rolle – auf einen leichten, modernen Jogginganzug aus den 1940ern gefreut, den er in den Schlussszenen tragen durfte.

In diesem Film war Jonathan mit einer Rolle konfrontiert, in der er als 15-Jähriger erleben muss, wie seine Schulfreunde der Reihe nach in einem grausamen und mehr als sinnlosen Krieg fallen. Diesen Irrsinn in irgendeiner Form nachempfinden zu können, um die Rolle glaubhaft darzustellen, ist für keinen Schauspieler eine leichte Aufgabe. „Ich glaube, so etwas kann man nur an sich heranholen, indem man versucht, eigene Verlusterfahrungen existenziell hochzuziehen“, erklärt Jonathan. Wirklich nachempfinden könne er diese schrecklichen Kriegserlebnisse natürlich nicht. Aber er könne versuchen, solche Situationen emotional zu verstehen und diejenigen Teile seiner Persönlichkeit mit in die Rolle einfließen zu lassen, die er selbst als Mensch zu geben habe. Davon abgesehen, so ergänzt er, sei so etwas aber auch ein grundlegender Bestandteil seines Berufs: „Wenn ich die Rolle eines Mörders übernehme, muss ich ja auch niemanden umgebracht haben, um das spielen zu können.“ Studiert hat Jonathan Berlin an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule in München. Dort werde, erklärt er, entlang des Credos unterrichtet, dass Fantasie und Persönlichkeit die Grundpfeiler des Schauspiels seien.

»Diese hohen Beträge, wenn es um Leben und Tod geht, machen einfach wahnsinnig Spaß zu spielen.«

Mag sein, dass sich Jonathan Berlin seine Rollen vielleicht nicht aussuchen kann, jedenfalls noch nicht. Mag sein, dass die Stoffe und Figuren bisher eher zu ihm gekommen sind als umgekehrt. Trotzdem geht es bei seinem Spiel immer um das Überspannende, Wahrhaftige, Absolute. „Das Existenzielle ist etwas, was mich immer schon interessiert hat“, erklärt er. „Diese hohen Beträge, wenn es um Leben und Tod geht, machen einfach wahnsinnig Spaß zu spielen.“ Interessanterweise werde bei Die Freibadclique – ebenso wie bei Kruso – jeweils eine bestimmte Art von Utopie erzählt, stellt Jonathan fest. Und er ergänzt: „Ich finde, es gibt zu wenig Utopien.“ Heutige Narrative in der Unterhaltungswelt seien voller Dystopien, erklärt er, dieser Zustand präge gerade seine Generation total. Wenn man sich heute als junger Mensch mit den täglichen Fernsehnachrichten befasse oder etwas Fiktionales ansehe, sei es schwierig, nicht den Glauben zu verlieren, noch irgendetwas ins Positive bewegen oder verändern zu können. Gerade deshalb sei es auch so wichtig, sich als Künstler zu engagieren und wieder mehr Formen zu finden, in denen Mut machende Utopien erzählt würden.

Wer diese Sehnsucht nach besonderen Narrativen in sich trägt, dem wachsen im Laufe des Lebens auch ganz bestimmte Filme ans Herz – wie zum Beispiel Billy Elliot. Bei diesem Film gerät Jonathan ins Schwärmen und erklärt, dass dieser deshalb so superwichtig für ihn sei, weil er eine Utopie beschreibe und total politisch sei, ohne es einem direkt aufs Auge zu drücken: „Billy Elliot ist ein Beispiel dafür, wie fein und gleichzeitig aufbrechend man erzählen kann, ohne kitschig zu werden.“ Daneben sieht sich Jonathan als Teil der „Harry-Potter-Generation“, die Bücher von J.K. Rowling und die jeweiligen Verfilmungen haben seine Kindheit und Jugend maßgeblich geprägt. Gerade vor ein paar Tagen, so erzählt er, sei er wieder darüber gestolpert: „Diese Geschichte, die quasi unsere gesamte Generation geprägt hat, könnte für uns eigentlich ein kleiner Kompass sein. Man kann darin so viele Anekdoten finden, die politisch total aufgeladen sind – alleine, wenn man beobachtet, wie Harry, Ron und Hermine eigentlich die ganze Zeit gegen eine faschistische Gruppierung ankämpfen, die immer weiter zu erstarken droht.“

»Wenn man eine gewisse Präsenz in der Öffentlichkeit hat, muss man sich überlegen, was man damit überhaupt anfangen will.«

Am Abend des 14. September 2018 sagte Jonathan auf der Bühne des Deutschen Schauspielpreises, dass er sich qua seines Berufs als „Sprachrohr“ verstehe. Dabei richte er sich, so erklärt er uns in der Luxus Bar, an seine eigene Generation, seine Nachricht sei für alle gedacht, die nachkommen. Diese Generation zeichne sich dadurch aus, dass sie nationalitätenunabhängig denke, so aufgeklärt sei wie keine zuvor und genau wisse, wie entscheidend es für die Zukunft sei, die Umwelt zu schützen und die Demokratie zu verteidigen – aber gleichzeitig sei diese junge Generation noch nie damit konfrontiert worden, wirklich aktiv werden zu müssen. „Wir haben das nie richtig gelernt“, fasst Jonathan das Problem zusammen und betont, dass er der festen Überzeugung sei, dass seine Generation gerade an dieser Stelle eine extreme Verantwortung für die Zukunft habe. Daher versuche er auch, sich zu den Dingen, die ihn berührten, entsprechend zu verhalten. Nachdem er für einen Augenblick seine Gedanken kreisen lässt, fügt er hinzu: „Wenn man eine gewisse Präsenz in der Öffentlichkeit hat, muss man sich überlegen, was man damit überhaupt anfangen will.“ Das gelte übrigens auch für die sozialen Netzwerke. Er würde sich wünschen, dass mehr Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Reichweite stärker dafür nutzten, sich zu bestimmten Themen zu positionieren. Denn egal, was man tue, alles sei am Ende politisch.

Wenn Jonathan über den Zustand der Welt redet, wenn er beispielsweise darauf hinweist, dass in Sachen Erderwärmung die nächsten zehn Jahre darüber entscheiden werden, ob wir einer Klimakatastrophe noch entgehen können oder nicht, liegt immer eine leichte Schwermut in seiner Stimme. Aber wer kann es ihm verübeln, 2018 war für die Demokratie, den Umweltschutz und die Menschenrechte kein wirklich erbauliches Jahr. „Aber aus dieser Melancholie muss man sich befreien“, erklärt er, „und einen Spaß daran entwickeln, aktiv zu werden und die Sachen anzugehen.“

»Ich halte es grundsätzlich für Quatsch, unter irgendetwas irgendwelche Schlussstriche zu ziehen.«

So wie Jonathan über Engagement spricht, klingt es wie eine Medizin, die Trübsal heilt – und die er sich selbst immer wieder verabreicht. Vielleicht ist eine solche Medizin heute wichtiger als alles andere: Die Luxus Bar, in der wir uns befinden, liegt nur einen Katzensprung entfernt von der Stelle, an der am 17. April 2018 ein junger Mann mit einem Gürtel attackiert wurde – nur weil er eine Kippa trug. Was ist das für ein Deutschland, in dem so etwas heute noch passieren kann, gerade hier, im multikulturellen, bürgerlich-liberalen Prenzlauer Berg? Muss so ein Angriff nicht Alarmsignal genug und bester Gegenbeweis sein für all diejenigen, die schon zu Adenauers Zeit forderten, endlich einen Schlussstrich zu ziehen? Vielleicht empfindet Jonathan seine Rollen auch ein Stück weit als Antwort auf dieses Gehabe, auf diese immer wiederkehrende Forderung nach einer Beendigung der Debatte um Schuld, Verantwortung und Aufarbeitung. „Ich halte es grundsätzlich für Quatsch, unter irgendetwas irgendwelche Schlussstriche zu ziehen“, sagt er. Er kenne diese Forderung auch, aber verstehe sie nicht: „An dem, was seit Jahren passiert, sieht man doch nur zu gut, dass sich Dinge zu wiederholen drohen. Deswegen wäre es absolut falsch, darunter einen sogenannten Schlussstrich zu ziehen, denn das ist nichts anderes als eine Metapher für ‚Lasst es uns vergessen!‘ Und Vergessen wäre in Bezug auf das, was dieses Land an Schuld mit sich trägt, das Schlimmste, was passieren könnte.“

»Musik ist das Verbindendste überhaupt.«

Wir gönnen uns eine kurze Pause und entdecken hinter dem Tresen eine kleine Stereoanlage, an die sich ein Smartphone anschließen lässt. So ein Fotoshooting macht mehr Spaß mit Musik, also wünscht sich Jonathan den Soundtrack von Call me by your name – noch so ein Film, der dem jungen Schauspieler ans Herz gewachsen ist. Für Timothée Chalamet, den Hauptdarsteller des Films, empfindet er eine tiefe Bewunderung. Das ist mehr als nachvollziehbar, 2018 erhielt Chalamet für seine Rolle des Elio eine Oscar-Nominierung. „Mit dem, was Timothée in Call me by your name macht, eröffnet er fast eine neue Form des filmischen Spielens“, stellt Jonathan fest. Alleine Chalamets Körpersprache sei eine Kunst für sich: „Der dreht da teilweise Pirouetten, die total spontan wirken, aber wie aus einer anderen Welt scheinen.“ Daher halte er Call me by your name auch für einen extrem wichtigen Film, sagt Jonathan, „denn er beschreibt ebenfalls eine Utopie: eine Utopie von Liebe. Das Scenario, das dafür gewählt wurde, ist so ideal, das Setting wirkt wie eine Sommernachts-Traumwelt, in der sich, fernab von allem Politischen, einfach zwei menschliche Wesen begegnen und sich unabhängig von Geschlecht und Sexualität in einander verlieben.“

Während unseres Shootings arbeiten wir fleißig die Soundtrack-Playlist von Call me by your name ab, Song für Song schallert es aus den kleinen Boxen der Luxus Bar. „Musik ist das Verbindendste überhaupt“, bemerkt Jonathan und erklärt, dass für ihn persönlich Musik eines der wichtigsten Zeitdokumente in seinem Leben sei. In seinem zweiten Jahr an der Schauspielschule fing er an, eine Playlist zu erstellen, in der er seitdem sämtliche Lieder speichert, die ihn berühren. Mittlerweile ist diese Playlist mit dem Titel Waiting über 400 Songs lang. Jonathan erklärt, dass er trotz des Umfangs dieser musikalischen Sammlung zu jedem Lied genau sagen könne, in welcher Situation er gewesen sei, als er es zum ersten Mal gehört habe. Dadurch würde es ihm immer wieder gelingen, in das jeweilige Gefühl zurückzukommen, das er in dem Moment empfunden habe. „Diese Playlist ist unendlich wertvoll für mich, sie ist wie ein Erinnerungsglas-Sortiment“, erzählt er mit glänzenden Augen.

Wie wichtig Musik tatsächlich für ihn ist, konnte man Anfang September erahnen, als das Süddeutsche Zeitung Magazin in der Rubrik #7Tage7Songs einige seiner Lieblingsstücke vorstellte. Er habe es geliebt, da mitzumachen, sagt er, allerdings sei es auch extrem schwer gewesen, sich auf nur sieben Songs zu beschränken. 40 Lieder habe er in seiner engeren Auswahl gehabt, dann habe er aussortieren müssen. Entschieden hat er sich am Ende für Mr Blue Sky von Electric Light Orchestra, Sad-Eyed Lady Of The Lowlands von Bob Dylan, Wonderwall von Oasis, Denkmal von Wir sind Helden, Iron Sky von Paolo Nutini, 10.000 Miles von Mary Chapin Carpenter und schließlich für den 4. Satz – das Allegro con fuoco – aus Antonin Dvořáks sogenannter Symphonie aus der neuen Welt. Im SZ-Magazin erklärte Jonathan Berlin, dass dieser vierte Satz für ihn wohl bis heute das kraftvollste sei, was er je gehört habe. Die Opulenz, der unbändige Aufbruch und die positive Formulierung von Veränderung würden bei ihm immer noch Gedankenstürme, Euphorieausbrüche und einen gewissen Wunsch zur Revolution erzeugen.

»Man sollte auch die Dinge schätzen und lieben, die jetzt schon richtig gut sind.«

Wenn Jonathan hier und jetzt, am Tresen der Luxus Bar, eine neue ideale Welt bauen könnte, würde er gar nicht so viel verändern: „Diese Situation, in der wir uns gerade befinden, ist für viele Menschen in anderen Teilen der Welt bereits eine Utopie – und ich bin total dankbar, darin zu leben.“ Natürlich gebe es in einer Gesellschaft immer etwas zu optimieren, erklärt er, „aber man sollte ja auch die Dinge schätzen und lieben, die schon jetzt richtig gut sind.“

Die Call me by your name-Playlist ist fast am Ende, ein letzter Song von Sufjan Stevens schallert aus den Bar-Lautsprechern. Jonathan Berlin ist gerade einmal 24 Jahre alt, ältere Semester würden bemerken, er habe sein ganzes Leben ja noch vor sich. Gibt es etwas, worauf er mit seinen jungen Jahren schon besonders stolz ist? „Ich habe das Gefühl, dass ich dem Kind in mir immer noch relativ nahe bin und es nicht verloren habe“, sagt er. „Aber wenn ich tatsächlich noch ein Kind wäre, wäre ich wohl stolz auf den, der ich heute bin.“