Interview — Sven Marquardt

Was bleibt

Sven Marquardt, Fotograf und Gesicht der Berghain-Tür, dokumentiert mit seiner Kamera seit Jahrzehnten das Vergängliche. Seine Bilder sind Teil des fotografischen Gedächtnisses nicht nur einer ganzen Stadt, sondern einer ganzen Zeit. Dabei fotografiert der Mann der Nacht ausschließlich mit Tageslicht.

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Ole Westermann

Es gibt Orte auf der Welt, denen sagt man nach, sie könnten die spannendsten Geschichten erzählen. Wenn man dort sei, so heißt es, müsse man nur für einen Moment innehalten, die Augen schließen und einem leisen Flüstern lauschen – und schon würde man mitgenommen auf die Reise in eine andere Zeit.

Die Oranienburger Straße gehört zweifelsohne zu jenem Kreis geschichtsträchtiger Orte, die etwas zu erzählen haben, wenn man sie nur lässt. Schon seit knapp 800 Jahren liegt sie im Herzen Berlins und breitet sanftmütig zwischen Hackeschem Markt und Friedrichstraße ihre Arme aus, um alle herzlich zu begrüßen, die sie besuchen wollen.

Unzählige Menschen kamen im Laufe der Zeit vorbei, unzählige gingen auch wieder. Vieles wurde zerstört und vieles wieder aufgebaut, Altes ging und Neues konnte entstehen. So stapelten sich Geschichten über Geschichten, angesammelt über Jahre und Jahrhunderte.

Wer sich wie wir an diesem Freitagmorgen die Zeit nimmt, um auf den Stufen des Kaiserlichen Postfuhramts bei geschlossenen Augen die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zu genießen, dem erzählt die Oranienburger Straße leise ihre jüngste Geschichte: vom traurigen Abschied des C/O Berlin aus jenen ehrwürdigen Gemäuern, auf deren Stufen wir uns gerade niedergelassen haben.

Dort, wo sieben Jahre lang die Ausstellungsräume des C/O Fotografie-Forums beheimatet waren, hat nun irgendein Medizintechnik-Hersteller seine Flagge gehisst, die antriebslos im Wind flattert. So ist das eben dieser Tage in Berlin. Gibt es denn nichts, was bleibt?

So sitzen wir also am späten Vormittag vor dem Postfuhramt in der Sonne, schweigen und laufen Gefahr, in tiefen Wehmut zu verfallen. Doch plötzlich werden wir ins Hier und Jetzt zurückgeschossen: Vor uns baut sich ein freundliches und zuversichtliches Lächeln auf, das von einer großen dunklen Sonnenbrille eskortiert wird.

Lächeln und Sonnenbrille gehören beide zum Fotografen Sven Marquardt, mit dem wir heute zum Interview verabredet sind. Pünktlich auf die Minute erscheint er am vereinbarten Treffpunkt vor dem ehemaligen C/O und begrüßt uns mit einem herzlichen „Guten Morgen! Na, alles gut bei euch?“

Klar, alles gut. Gemeinsam laufen wir in das nur wenige Meter entfernte Café Oranium, um uns bei Kaffee und frischgepresstem Orangensaft zu unterhalten. Über ihn, seine Kunst und sein Leben.

Jonas:
Auf dem Opener deiner Website findet man das Zitat „Wilde Menschen hinterlassen wilde Dinge – Schlangenhäute, so dass man sich an sie erinnert, damit ihresgleichen nachfolgen kann.“ Bist du Fotograf geworden, weil du selbst irgendwann auf die Schlangenhaut von jemandem gestoßen bist, dem du nacheifern wolltest?

Sven:
Ne, da gab es niemanden. Als ich so etwa 16 Jahre alt war, herrschte bei mir ehrlich gesagt totale Orientierungslosigkeit. Damals habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Was will ich machen, was will ich werden, was will ich lernen? Darauf hatte ich erstmal absolut keine Antwort. Es gab in mir auch nicht diesen riesengroßen Wunsch, mich irgendwie kreativ verwirklichen zu müssen.
Nur eine Sache wusste ich ganz genau: Auf keinen Fall wollte ich in einem miefigen Büro sitzen oder in irgendeiner Halle Werkzeuge fertigen. Ich habe Ende der 70er einfach eine klassische Fotografen-Ausbildung begonnen und auch durchgezogen – aber eher deshalb, weil die Fotografie für mich eher ein Handwerk und eine Dienstleistung war, die überall gebraucht wurde. Erst im Laufe der Zeit und auch eher zufällig wurde das Fotografieren für mich zu einem Ausdrucksmittel, das genau das transportieren konnte, was mich beschäftigt – diese Bedeutungsebene gab es ganz am Anfang einfach noch nicht.

Die Leute fühlten sich durch meine Bilder irgendwie verstanden.

Jonas:
Wie genau kam es zu dieser Veränderung?

Sven:
Während meiner Fotografenausbildung erhielt ich irgendwann einen Musterungsbescheid. Wie jeder sollte auch ich zur Armee. Das habe ich aber total abgelehnt, ich wollte da auf keinen Fall hin.
Meine Familie sagte dazu nur: „Das wirst du nicht schaffen.“ Man muss wissen, dass diese Einstellung zu DDR-Zeiten als eine gegen den Staat gerichtete Haltung galt und daher nicht ganz ungefährlich war. Ich musste also versuchen, etwas schlauer zu sein und mir was einfallen zu lassen: Immer wieder habe ich mir daher ärztliche Atteste besorgt. Und auf die Atteste folgten Therapieversuche, Überweisungen und Einweisungen. So wurde ich bei der Musterung über Jahre immer wieder zurückgestellt, bis ich schließlich ganz ausgemustert wurde.
Bei einem dieser Therapieschritte sollte man irgendwann mal etwas gestalten, was mit einem selbst zu tun hatte. Also habe ich Gedichte ausgeschnitten und sie zusammen mit Portraits, die ich geschossen hatte, aufgeklebt. Die Leute, die meine Bilder sahen, sagten mir, dass meine Fotografie genau das erzählte, was sie selbst bedrückte. Sie fühlten sich durch meine Bilder irgendwie verstanden.
Das war zwar total schön, aber hat bei mir noch keinen Klick ausgelöst. Ich war zu der Zeit gerade mit meiner Ausbildung fertig und wusste schon wieder nicht, was ich machen soll und womit ich mein Geld verdienen will. Also habe ich erstmal angefangen zu jobben, war unter anderem Kleindarsteller beim Film und Statist am Theater. Die Atmosphäre dort habe ich sehr gemocht – hier gab es einfach mehr Freigeister und nicht so viele Linientreue wie sonstwo.
Irgendwann – ich glaube es war 1982 – bin ich im Prenzlauer Berg der Familie von Robert Paris begegnet. Das war ein entscheidender Moment in meinem Leben. Robert’s Mutter war Fotografin und nahm sich die Zeit, meine Bilder anzuschauen. Sie meinte nur: „Mach’ mal ruhig weiter! Und wenn du Lust hast, komm’ vorbei und zeig’ mir, was du fotografiert hast – ich schau’ mir das gerne an. Hier stehen die Türen jederzeit offen für dich.“
Da habe ich gespürt, dass ich tatsächlich damit weitermachen musste, um herauszufinden, was mit meinen Fotos noch so passiert – und habe immer mehr Menschen portraitiert.

Jonas:
Manchmal braucht es eben solche Begegnungen im Leben…

Sven:
Absolut! Auch die Begegnung mit Robert Paris selbst war ziemlich wichtig für mich. Zu Ostzeiten hatte Robert etliche Stellen der Stadt fotografiert: Häuser, Straßen – aber immer ohne Menschen. Alles wirkte total verlassen. Wenn man damals früh morgens vor dem Berufsverkehr oder am Wochenende losgezogen ist, war Ostberlin auch tatsächlich wie ausgestorben – sogar im Sommer. Ein Nachtleben gab es ja hier zu DDR-Zeiten nicht.
Irgendwie teilten wir beide einfach das gleiche Lebensgefühl – und so fügten sich im Jahr 1984 Robert’s Stadtbilder und meine Portraits zu unserer ersten gemeinsamen Ausstellung zusammen. Als seine und meine Fotos an den Wänden nebeneinander hingen, merkten wir, dass sie irgendwie zusammengehören und ziemlich gut zueinander passen: Ich hatte die Menschen zu seinen verlassenen Gebäuden und leeren Straßen – und umgekehrt.

Jonas:
Was für ein Gegensatz!

Sven:
Ja, total. Übrigens: Robert bringt jetzt nach langer Zeit wieder einen Bildband heraus, der den Titel „Entschwundene Stadt“ trägt. Darauf bin ich sehr gespannt! Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen – nach dem Mauerfall haben wir uns eines Tages aus den Augen verloren. Robert lebt seit etlichen Jahren in Indien, ich selbst bin Berlin treu geblieben.
Seit einigen Jahren sind wir aber wieder in Kontakt. Jeder lebt sein Leben, aber es gibt ja Dinge, die auf ewig einen Platz im Herzen haben.

Jonas:
Die Wendezeit scheint ein ziemlicher Bruch in deinem Leben gewesen zu sein, immerhin hast du damals aufgehört zu fotografieren.

Sven:
Ich habe nicht direkt nach der Wende aufgehört, aber Anfang der 90er. Ich war schon wieder orientierungslos. Und die Leidenschaft zur Fotografie war nicht mehr da.
Ich erinnere mich noch gut an ein Shooting für das Tattoo-Studio „Blut und Eisen“: Eigentlich war es ein klassischer Fototermin, reine Routine. Aber während ich so fotografiert habe, habe ich gemerkt: Irgendwas ist nicht mehr da. Ich habe die Kamera weggelegt und gesagt: Ne, ich mag nicht mehr.

Jonas:
War das für dich problematisch?

Sven:
Für mich war das ehrlich gesagt gar nicht so problematisch – für mein Umfeld dafür umso mehr. Das war echt komisch.
Ich habe angefangen in einem Schuhladen zu jobben, für den ich vorher mal Werbebilder gemacht hatte. Leute, die mich noch aus Ostzeiten kannten und in dem Geschäft antrafen, dachten: „Oh Gott, muss der arme Marquardt jetzt in so einem Laden stehen?“
Ich selbst habe das alles aber viel entspannter gesehen: Die alte Zeit hatte ich losgelassen und war jetzt dabei, etwas Neues zu suchen – das hatte ich nur einfach noch nicht direkt gefunden.

Jonas:
Und obwohl die Fotografie mittlerweile ein so wichtiges Ausdrucksmittel für dich war, konntest du ohne weiteres loslassen?

Sven:
Ja, konnte ich. Ich hatte das Gefühl, ich hätte alles gesagt. Ich dachte einfach: Das war’s. Vielleicht hing es auch damit zusammen, dass die Fotografie zu Ostzeiten Sehnsüchte und Wünsche ausgedrückt hatte, die nach der Wende so nicht mehr existierten.
Für mich war das alles komplett abgeschlossen. Meine Sachen hatte ich daher mehr oder weniger ordentlich in Kisten gepackt und weggeschoben. Worauf ich allerdings nach wie vor sorgfältig geachtet habe, war mein Negativarchiv. Das habe ich von einem zum anderen Umzug immer mitgeschleppt.
Alles andere hat mich aber nicht mehr interessiert. Berlin und ich, wir waren beide in totaler Aufbruchsstimmung: Partys, exzessives Leben, viele Tätowierungen.

Schon zu Ostzeiten war ich einfach schwer einzuordnen.

Jonas:
Du hast dich zu der Zeit aber nicht stumm gefühlt…

Sven:
Ne, ich bin ja in ein komplett neues Leben eingetaucht, was mir sehr viel Spaß gemacht hat. Ich hatte meine Jobs, um mich über Wasser zu halten, und war nicht der Meinung, dass mir was fehlt.
Auch mein Freundeskreis hat sich dadurch extrem verändert. Mit den ganzen Leuten von früher hatte ich irgendwann nichts mehr zu tun. Viele von denen sind einen ganz anderen Weg gegangen, haben Karriere gemacht und arbeiten heute beispielsweise als Dozenten. Ich bin einfach einen anderen Weg gegangen – schon zu Ostzeiten war ich einfach schwer einzuordnen.

Jonas:
Könntest du dir nicht vorstellen, auch als Dozent zu arbeiten?

Sven:
Ich hatte vor einiger Zeit tatsächlich ein Angebot von Werner Mahler an der Ostkreuzschule, wo ich einmal im Monat als Gastdozent aufgetreten wäre. Dieser Termin wäre allerdings immer am Wochenende gewesen, was für mich bedeutet hätte, mit dem Türjob im Berghain kürzertreten zu müssen. Ich hatte das Gefühl, dass das gerade irgendwie zu früh kommt.

Vielleicht wollte ich damals einfach etwas festhalten, weil alles um uns herum so vergänglich war.

Jonas:
Im Jahr 2003 hast du dann doch nochmal zur Kamera gegriffen…

Sven:
Ja! Das war zu der Zeit, als das Ostgut zugemacht hat – der Vorgängerladen des Berghain. Ich hatte damals dort gearbeitet, in einer der Hallen am ehemaligen Ostgüter-Bahnhof, wo jetzt die O2-Arena steht.
Damals bin ich an den freien Wochenenden zusammen mit meinem Kollegen Jan durch die Stadt gezogen. Wir mussten beobachten, dass immer mehr vom alten Berlin verschwindet, wie zum Beispiel die Rummelsburger Ecke oder Alt-Stralau, wo jetzt teure Apartments stehen.
Jan hat mich als Mensch zu dieser Zeit sehr inspiriert. Er hat mich dazu gebracht, wieder die Kamera in die Hand zu nehmen und ihn zu fotografieren. So sind wieder die ersten Portraits entstanden. Vielleicht wollte ich damals einfach etwas festhalten, weil alles um uns herum so vergänglich war.

Wir unterbrechen unser Interview für einen Moment und zahlen. Während Sven Marquardt seinen Orangensaft austrinkt, packen wir unser Equipment zusammen. Wir wollen noch in Richtung Museumsinsel weiterziehen, um dort einige Portraits von Sven zu schießen.

Während wir das Café verlassen, fällt unser Blick wieder auf das Kaiserliche Postfuhramt. Bei der Errichtung am Ende des 19. Jahrhunderts wurden hier insgesamt 26 Portraits bedeutender Persönlichkeiten in die steinerne Fassade gemeißelt. Diese Persönlichkeiten hatten sich alle um das Post- und Nachrichtenwesen verdient gemacht und sollten in Erinnerung bleiben – vom persischen König Darius bis zum Physiker Gustav Robert Kirchhoff. 25 der 26 Portraits haben sich bis heute erhalten und trotzen dem Zahn der Zeit.

Jonas:
Du erlebst ja seit Dekaden den Wandel dieser Stadt: Heute Morgen haben wir uns vor dem alten Postfuhramt getroffen, das bis vor wenigen Tagen noch die Heimat des berühmten C/O Berlin war. Am letzten Tag wollten sich tausende Menschen verabschieden, die Schlange war über 100 Meter lang…

Sven:
Ja, das war ein toller Ort. Ich habe gesehen, dass jetzt „Biotronik“ oder sowas dransteht. Ich hätte mich auch gerne verabschiedet, aber ich gehe nicht gerne zu solchen offiziellen Sachen. Es ist aber echt toll, dass so viele Leute die letzte Ehre erweisen wollen.

Jonas:
Wie nimmst du selbst die Veränderung der Stadt über die Jahre wahr?

Sven:
Veränderung gehört zu einer Stadt wie Berlin dazu, ohne Frage. Manchmal laufe ich echt durch die Straßen und denke: Was ist denn hier passiert? Da sieht ein über die Jahre vertrauter Ort plötzlich ganz anders aus. So ist das eben.
Richtig schlimm würde es nur werden, wenn hier so eine Law&Order-Stimmung einziehen würde wie etwa in New York. Dann würde Berlin so glatt werden, dass es mich echt gruseln würde. Aber so lange es Oasen und Rückzugsorte wie zum Beispiel das Berghain gibt, besteht noch Hoffnung… Sven grinst

Jonas:
Welchen Einfluss hat der Job an der Berghain-Tür denn auf deine Fotografie, deine Kunst?

Sven:
Irgendjemand hat vor kurzem mal zu mir gesagt: „Deine Fotos sehen aus, als wären sie nachts entstanden.“ Ich fotografiere aber tatsächlich nur mit Tageslicht. Ich könnte nachts nie ein Foto machen. Trotzdem transportiert die Nacht als solche bestimmt einiges in meine Bilder. Ich sehe ja so viel und habe einen enormen Input durch den Job an der Tür.
Nicht dass ich jetzt irgendjemanden ansprechen würde und fragen würde, ob ich ihn fotografieren kann. Trotzdem nehme ich aus der Nacht eine gewisse Inspiration mit – von der Art der Menschen.

Wir haben die Museumsinsel erreicht und betreten das Palais am Festungsgraben, das sich direkt an dem Kastanienwäldchen hinter der Neuen Wache befindet. Einst saß hier der preußische Finanzminister, nach dem Zweiten Weltkrieg dann die sowjetische Militäradministration und später die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in der DDR.

All das ist seit vielen Jahren schon Vergangenheit. Wo damals noch Finanzbeamte, Militärs und Funktionäre saßen, hat sich heute ein kleines, aber feines Theater etabliert.

Im ersten Stock des Palais entdecken wir große, verspiegelte Räume. Auch wenn man ihnen ansieht, dass sie bereits ein gewisses Alter erreicht haben, strahlen sie immer noch eine unerschütterliche Würde aus.

Für einen Moment schließen wir die Augen und lauschen – denn dies scheint ebenfalls einer dieser Orte zu sein, der eine Geschichte zu erzählen hat und uns mitnehmen will auf die Reise in eine andere Zeit.

Währenddessen sind aus Erdgeschoss leise Stimmen zu hören, die ab und zu von einem Klavier unterbrochen werden – die Proben des Ensembles sind gerade in vollem Gange.

Jonas:
Hat Musik für deine Fotografie eigentlich auch eine gewisse Bedeutung?

Sven:
Ja, Musik ist nicht so ganz unwichtig. „Atoms for Peace“ sind vor kurzem im Berghain aufgetreten. Da hab’ ich mich unten in die Säulenhalle geschlichen und alles aufgesaugt, was die gespielt haben. Das war richtig gut.
Und mein Taxifahrer hat mir vor ein paar Tagen ein Album von Martyn Bates in die Hand gedrückt. Das hab’ ich ebenfalls sehr gemocht.

Jonas:
Wenn Musiker irgendwo Schlangenhäute hinterlassen, tun sie das in der Regel durch ihre Songs. Ist es dir ebenfalls wichtig, dass etwas von deiner Kunst bleibt?

Sven (lächelt):
Es gibt ja zwei Bildbände von mir. Wenn die noch einen Moment da bleiben, reicht mir das eigentlich. Neulich gab es auch eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie, wo die Werke von etlichen ehemaligen Ostfotografen zu sehen waren. Auch von mir waren einige Fotos dabei, das war echt toll.
Ganz allgemein finde ich es aber auf jeden Fall wichtig, etwas zu hinterlassen. Das muss einfach eine gewisse Zeitlosigkeit haben, damit es über den Zeitgeist hinaus noch die nächste und übernächste Generation hinaus berühren kann.

Die Zeit ist ja auch zu kostbar, um sie dazu zu verbrauchen, jemand anderen verändern zu wollen.

Jonas:
Wilde Menschen hinterlassen wilde Dinge…

Sven:
Hmm… Irgendwie bin ich ja immer ausgebrochen und habe etwas anderes gemacht als das, was von mir erwartet wurde. Diesen klassischen Weg gab es bei mir einfach nicht – ich bin immer gegen den Strom geschwommen.
Daher habe ich auch über die Jahre viele Auseinandersetzungen innerhalb der Familie erlebt. Trotzdem stand zum Beispiel meine Mutter letztlich immer hinter mir, ganz egal wie chaotisch alles war.
Die Zeit ist ja auch zu kostbar, um sie dazu zu verbrauchen, jemand anderen verändern zu wollen. So war ich mein Leben lang einfach immer ein Stück weit unangepasster. Und vielleicht auch etwas wild.

Sven Marquardt wirkt gerade sehr zufrieden, seine tiefen Augen funkeln. Geduldig und schweigsam lässt er sich noch einige Minuten in den weiten Räumen des Palais ablichten, dann sind alle Fotos im Kasten.

Während man ihn so beobachtet, wirkt er selbst wie einer jener unerschütterlichen Orte, deren Geschichte man mit jedem Atemzug inhalieren kann, wenn man nur die Augen schließt und lauscht, um mitgenommen zu werden auf die Reise in eine andere Zeit.

Wir verabschieden uns herzlich. Während wir noch unser Equipment zusammenpacken, macht sich Sven schon auf den Weg und entschwindet in die Frühlingssonne.

Wenig später sind auch wir soweit und laufen zurück zum Postfuhramt. Hier, wo uns heute Morgen noch ein leises Gefühl von Wehmut packte, fällt unser Blick nun auf die steinernen Portraits, die sich aus der Fassade heraus dem Tageslicht entgegenstrecken.

Die Flagge des Medizintechnik-Herstellers, die immer noch antriebslos im Wind flattert, scheinen die 25 Köpfe nicht wirklich zu beachten – ihr Blick gilt einzig und allein dem Licht.

Stolz wirken sie dabei. Und etwas wild.

Das ist es, was bleibt.