Interview — Michelle Barthel

Durch die Nacht

Michelle Barthel gehört zu den seltenen Wesen, deren Augen dich verzaubern, während du wie hypnotisiert an ihren Lippen hängst. Durch die Berliner Nacht mit Michelle Barthel.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Christian Hasselbusch

Es gibt Momente im Leben, da sollte man sich einfach treiben lassen und darauf vertrauen, dass alles gut wird. In diesen Momenten braucht es keinen Plan und keinen Kompass: Gesteuert wird rein aus Gefühl, gefahren wird auf Sicht.

Einer dieser Momente hat sich für den heutigen Samstagabend angekündigt. Wir wollen ihn gemeinsam mit der jungen Schauspielerin Michelle Barthel erleben, mit der wir uns zum Interview verabredet haben. Hier, am U-Bahnhof Weinmeisterstraße, soll unser Abend beginnen. Wohin die Reise geht: Keine Ahnung.

Wir wollten es ja auch gar nicht anders, hatten diese Idee irgendwann im letzten Herbst – an irgendeinem Küchentisch auf irgendeiner Party irgendwo in Berlin. Aus jener Idee wurde schnell ein Vorhaben, aus dem Vorhaben ein Versprechen und aus dem Versprechen das, was dieser Samstagabend bringen mag.

Und so gibt es heute nur ein Ziel: eine Antwort zu finden auf die Frage, wer und wie dieser Mensch wohl ist – dieser Mensch namens Michelle Barthel, die so plötzlich vor uns steht auf der Weinmeisterstraße mitten in Berlin.

Es ist gerade einmal 18 Uhr, also irgendwie erst Mittag und eigentlich noch viel zu früh für einen Samstagabend in der Hauptstadt. Aber das macht nichts, denn unsere Mägen knurren um die Wette. Und es ist kalt. Also brauchen wir eine Grundlage.

Wir ziehen los, die Gipsstraße entlang, und biegen schließlich in die Auguststraße ein. Neben dem Café „The Barn“, wo gerade die Stühle hochgestellt werden, springt uns eine hübsch gestaltete Schiefertafel ins Auge. Wir schauen uns an und überlegen: Wer das Wort „Bio-Burger“ so liebevoll auf eine Tafel schreibt, kann kein schlechtes Essen haben.

Also rein in diesen Laden, der den netten Namen „Fräuleinburger“ trägt. Kaum haben wir die Tür hinter uns geschlossen, fühlen wir uns in eine andere Zeit gebeamt – eine Zeit irgendwo zwischen Fifties und Captain Future, wo rote und gelbe Neonröhren um die Wette strahlen. Gemütlichkeit mal sonderbar anders. Angenehm anders.

Hinter dem Tresen empfängt uns Katharina Guntermann. Vor wenigen Monaten hat sie diese kleine Wohlfühloase erst eröffnet, trotzte seitdem wacker diversen Steinwurfattacken und Farbanschlägen. Gelassen und freundlich nimmt sie unsere Bestellung auf. Wirklich alles ist hier selbstgemacht. Authentizität lässt sich eben nicht vertreiben.

An einem kleinen Tisch im Untergeschoss nehmen wir Platz und warten auf unsere Burger. Während wir das Diktiergerät starten, legt Michelle ihre Hände um eines der kleinen Teelichte, die überall auf den Tischen verteilt sind.

Jonas:
Du hast 2001 zum ersten Mal auf der Bühne gestanden – mit gerade einmal acht Jahren. Wie kam es dazu, dass du so früh schon Theater gespielt hast?

Michelle:
Meine Eltern hatten damals in einem recht kleinen Ort in der Nähe von Münster neu gebaut, wir waren gerade umgezogen. Um die Leute in dieser neuen Umgebung besser kennenzulernen und schneller Anschluss zu finden, gab es verschiedene Möglichkeiten. So standen etwa Chor, Ballett oder Theater zur Auswahl – und ich habe mich für Theater entschieden.
Zwar war das eher eine Laientheatergruppe, trotzdem hat es mir super viel Spaß gemacht. Wir haben diverse Märchen gespielt und alle Kinder haben mitgemacht. Das war echt schön – und so stand ich mit acht Jahren schon auf der Bühne.

Jonas:
Und zwei Jahre später hast du dann zum ersten Mal vor einer Kamera gestanden…

Michelle:
Ja, stimmt. Dazu gibt es aber eine lustige Vorgeschichte. Zu der Zeit, als ich freizeitmäßig Theater gespielt habe, hatte ich gemeinsam mit einer guten Freundin die fixe Idee, Model zu werden – was man sich eben mit acht Jahren so ausdenkt. Damals gab es in Münster ein Casting für einen Fotokatalog. Und wir dachten: Lass’ uns mal hingehen.
Beim Casting mussten wir einige Fragen beantworten, zum Beispiel was unsere Hobbys sind. Ich sagte, dass ich Theater spiele, und wurde daraufhin gefragt, ob ich nicht auch mal Lust hätte, zu einem Filmcasting zu kommen. Das habe ich natürlich gemacht – und wurde dort für meinen ersten Film besetzt.
Dieser Film hieß „Der zehnte Sommer“ und war ein Kinderkinofilm mit Katharina Böhm und Kai Wiesinger. Gedreht haben wir irgendwann in 2002, da war ich neun Jahre alt.

Jonas:
Konntest du damals schon einen Unterschied erkennen zwischen Theater- und Filmschauspiel?

Michelle:
Ja, absolut. Vom Spielen her habe ich da einen echt großen Unterschied wahrgenommen. Ich weiß noch, am ersten Drehtag hat der Regisseur zu mir gesagt: „Michelle, mach’ mal die Hälfte!“ Beim Theater hatte ich damals gelernt, dass ich alles sehr groß spielen muss, um auch das ganze Publikum mitnehmen zu können. Man muss dort eben einen Raum füllen, den man beim Drehen so gar nicht hat. Vor der Kamera muss man sein Spiel daher sehr minimieren.

Man merkt direkt, ob man die Menschen vor sich erreicht oder nicht.

Jonas:
Das heißt, du streckst auf der Theaterbühne viel deine Arme viel weiter aus, um alle mitzunehmen zu können?

Michelle:
Ja natürlich. Man fühlt dort oben ja auch genau, was das Publikum fühlt. Und man merkt direkt, ob man die Menschen vor sich erreicht oder nicht. Diese unmittelbare Verbindung von Bühne und Publikum ist am Theater einfach unglaublich stark und wichtig.

Jonas:
Gibt einem dieses Unmittelbare zusätzlichen Auftrieb?

Michelle:
Klar, weil man ständig das Gefühl hat, um das Publikum kämpfen zu müssen. Man muss es schaffen, dass die Leute genau das empfinden, was man selbst gerade empfindet. Bei dem einen Publikum ist das leichter, bei dem anderen schwerer.
Ich hatte auch ganz oft Vorstellungen, wo viele Kinder saßen. Und Kinder sind bekanntermaßen sehr kritisch: Wenn man öde ist, ist man öde. Und das lassen sie einen auch spüren. Sie sind das ehrlichste Publikum, das man haben kann.

Wir unterbrechen unsere Unterhaltung für einige Minuten, denn die bestellten Burger sind fertig. In kleinen Körbchen werden sie an unseren Tisch gebracht und sehen tatsächlich so wunderbar lecker aus, wie es die Schiefertafel vermuten ließ. Glück kann so einfach sein.

Diese Grundlage war mehr ordentlich. Und so scheinen wir gut gerüstet, um die unbekannte Reise fortzusetzen. Durch den Abend. Durch die Nacht.

Nachdem wir uns herzlich von Katharina verabschiedet haben, ziehen wir weiter. Mittlerweile ist es 19:30 Uhr, die Dämmerung hat eingesetzt.

Nach links oder nach rechts? Oder doch besser geradeaus? Irgendwie zieht es uns Richtung Rosenthaler Platz, also laufen wir die Auguststraße weiter. Nach etwa hundert Metern stehen wir vor einer Bar namens „Hackbarth’s“. Sieht nett aus. Also rein da.

Und tatsächlich: Goldene Wände, schwarze Kacheln und ein opulenter Tresen erzeugen eine angenehm warme und vertraute Atmosphäre. Und wie bei „Fräuleinburger“ stehen hier überall kleine Teelichte. Ob diese kleinen Kerzen heute Abend unsere stillen Begleiter sind?

Die Bar ist gut besucht, nur ein Tisch ist noch frei – Glück gehabt.

Jonas:
Wie ging es nach dem Film mit deiner Schauspielerei weiter?

Michelle:
Ich wurde von der Kinder- und Jugendagentin Maria Schwarz angesprochen, die mich in ihre Agentur aufgenommen hat. Sie kannte mich schon, da sie für „Der zehnte Sommer“ gecastet hatte und später auch den Film gesehen hatte.

Jonas:
Und so flatterte dir dann Projekt über Projekt ins Haus?

Michelle:
Nein, dann kam ganz lange erst einmal gar nichts mehr. Mein Vater war zu der Zeit gestorben – die Schauspielerei hatte ich dabei irgendwie gar nicht mehr auf dem Schirm und total vergessen. Das Ganze war nur noch als irgendeine coole Kindheits-Aktion in Erinnerung. Dass ich überhaupt nochmal die Chance erhalten würde zu spielen – damit hätte ich wirklich nicht gerechnet.
Irgendwann bekam meine Mutter aber eine Email von meiner Agentin: Für eine Rolle im Film „Keine Angst“ wurde ein dreijähriges Mädchen gesucht. Meine Mutter wurde gefragt, ob sie zufällig jemanden kennen würde, der auf die Rollenbeschreibung passt. Sie kannte zwar kein dreijähriges Mädchen, fragte aber nach, ob die Hauptrolle schon besetzt sei – und dachte dabei an mich.
Die Rolle war zwar noch frei, allerdings stand das Casting dafür schon unmittelbar bevor. Und da ich mittlerweile 15 war und ich mich im Laufe der letzten Jahre natürlich äußerlich sehr verändert hatte, mussten wir noch auf die Schnelle ein paar Fotos schießen – kurz vor knapp morgens um 6:00 Uhr, bevor ich zur Schule gegangen bin. Dementsprechend fertig sah ich auf den Fotos aus, was aber eventuell ganz gut gepasst hat auf die Rolle.
Wenig später wurde ich zum Casting eingeladen und tatsächlich für die Hauptrolle besetzt –die Figur Becky in „Keine Angst!“

Jonas:
Was für ein Zufall!

Michelle:
Ja, total. Es ist auch nicht normal, dass eine Mutter so nachhakt. Das Ganze hing einfach an einem seidenen Faden des Schicksals.

Jonas:
Vielleicht hatte deine Mutter einfach das Gefühl, dass es das Richtige für dich sein könnte.

Michelle:
Kann sein. Vielleicht fand sie es aber auch einfach nur etwas schade, dass ich das mit der Schauspielerei nicht mehr gemacht habe. Schließlich hatte es mir ja als Kind richtig viel Spaß gemacht.
Ich muss dazu aber sagen, dass ich durch den Tod meines Vaters und alle schmerzlichen Erfahrungen, die damit verbunden waren, auf eine ganz andere Gefühlsebene gekommen bin. Als Kinderdarstellerin habe ich ja einfach nur gespielt wie ein Kind. Was wirklich hinter dieser Kunst steckt und was man dafür geben muss, habe ich erst durch den Dreh für „Keine Angst“ gelernt.

Jonas:
Wie hast du dich damals auf die Rolle vorbereitet?

Michelle:
Es gab viele intensive Probetage, wir haben uns wieder und wieder sehr ausführlich über die Problematik unterhalten. Jede Szene haben wir dabei auseinandergenommen und überlegt, was wir damit genau sagen wollen. Alleine dadurch hatte ich eine ganz andere Bindung zum Spiel als vorher.

Jonas:
„Keine Angst“ wurde mit insgesamt vier Preisen ausgezeichnet – und plötzlich war der Name Michelle Barthel überall ein Begriff. Wie hast du das aufgenommen?

Michelle:
Gar nicht. Ich checke das auch immer noch nicht so wirklich. Es wundert mich nach wie vor, wenn mich jemand beim Casting oder auf der Straße erkennt.

Jonas:
Die meisten Leute haben dich wahrscheinlich schon viel öfter im TV gesehen als sie meinen – du hast ja alleine in vier Tatorten mitgespielt, die jedes Mal ein Millionenpublikum erreicht haben.

Michelle:
Ja, ich bin auch sehr stolz, dass ich da mitwirken durfte. Allerdings dachte ich nach dem vierten Tatort: Ein fünftes Mal muss es nicht unbedingt geben, irgendwann fällt es sicher auf, dass immer wieder dasselbe Mädchen in einer ähnlichen Rolle zu sehen ist. Ich kann mir vorstellen, dass das die Zuschauer vielleicht irgendwann nervt.

Jonas:
Nervt es dich selbst?

Michelle:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich spiele dort ja immer sehr spezielle Charaktere, die vor ganz bestimmten existenziellen Problemen stehen – und das finde ich sehr spannend. Ich mag diese Rollen äußerst gerne, weil sie mich dazu bringen, mich mit dieser Problematik intensiv auseinanderzusetzen. Daraus schöpfe ich sehr viel Kraft.
Bei „Keine Angst“ habe ich übrigens zum ersten Mal gemerkt, wie das ist, wenn man eine gewisse Empathie für die Figur empfindet, die man spielt. Es hilft mir immer sehr, wenn ich versuche, mich in deren Lage zu versetzen. Ich hoffe dadurch besser verstehen zu können, warum die Figur gerade so handelt.
Seit „Keine Angst“ gehe ich auch viel weniger kritisch mit anderen Menschen um und verurteile nicht mehr so schnell, weil ich gelernt habe, dass jeder irgendwo seine Beweggründe hat für das, was er tut.

Jonas:
Erreicht man da nicht irgendwann eine Grenze des Verstehens?

Michelle:
Natürlich gibt es Dinge, die sind so grausam, so brutal oder einfach so sonderbar, die kann man nicht begreifen. Und darf sie auch nicht tolerieren. Trotzdem habe ich erlebt, dass man oft viel zu schnell den Begriff „unmenschlich“ benutzt, ohne dabei wirklich zu überlegen, was das überhaupt heißt. Nicht selten wirkt das wie eine faule Ausrede, mit dem wir das Geschehene weit von uns wegschieben können. So müssen wir uns damit nicht ernsthaft auseinandersetzen.
Ich halte es einfach grundsätzlich für wichtig, dass man sich bei allem genau die Hintergründe anschauen muss, um nachvollziehen zu können, warum beispielsweise jemand eine so ungeheure Wut entwickelt hat.

Die Bar wird voller und voller, der Geräuschpegel steigt empfindlich. Immer mehr Menschen strömen nun in das goldgelb schimmernde Lokal, das sein stimmungsvolles Licht durch große Fenster weit nach draußen wirft. Kurz vor 21.00 Uhr ist es jetzt – was wohl die nächste Station auf unserer Reise sein mag?

Wir laufen zurück zur U-Bahnstation Weinmeisterstraße, die nächste Entscheidung steht an: Wollen wir nach Norden oder lieber in den Süden? Die U8 Richtung Herrmannstraße kommt zuerst, also wird’s der Süden.

Fünf Stationen weiter steigen wir aus. Das Kotti ist ja immer einen Abstecher wert, wenn man sich in die Nacht stürzen will. Auf die Oranienstraße haben wir aber gerade keine Lust, und so laufen wir den Kottbusser Damm entlang, bis wir vor der Mariannenstraße an der Ampel stehen. Oh, lasst uns ins „Hotel“ gehen, das ist doch hier gleich!

Das „Hotel“ ist eigentlich eine Bar und immer eine gute Idee. In dem kleinen, verwinkelten Laden gibt es kein künstliches Licht, dafür aber etliche Kerzen – eine Stimmung, die so schön ist, dass man sie nicht beschreiben kann.

Wir finden eine kleine freie Ecke vor dem Klavier, legen unsere Jacken ab und machen es uns gemütlich.

Jonas:
Vor kurzem hast du den Film „Spieltrieb“ abgedreht, der auf dem gleichnamigen Roman basiert. Du wurdest auch hier für die Hauptrolle besetzt – war deine Herangehensweise bei der Vorbereitung dieselbe wie sonst?

Michelle (lacht):
Auf jeden Fall hat der Dreh turbulenter begonnen als sonst! Ich habe zu der Zeit gerade mein Abi gemacht. Meine mündliche Prüfung hatte ich morgens um 7:30 Uhr und saß um 12:00 Uhr schon im Flieger nach München, um den ersten Probentag nicht zu verpassen.
Aber im Ernst: Alleine die physische Vorbereitung war viel intensiver als bei meinen früheren Rollen. Ich musste sehr viel trainieren, da die Figur, die ich spiele, sehr sportlich ist und im Film viel rennt.

Jonas:
Der Film wird wahrscheinlich im Herbst 2013 Premiere haben. Freust du dich?

Michelle:
Ja, ich freue mich sehr. „Spieltrieb“ ist auf der einen Seite sehr düster, auf der anderen Seite aber äußert lebendig und provokant. Ich bin total gespannt darauf, was die Leute empfinden werden, wenn sie ihn sehen.

Jonas:
Was charakterisiert die Rolle der Ada, die du spielst?

Michelle:
Ada ist ein fünfzehnjähriges Mädchen, das ziemlich isoliert durchs Leben geht und sich ihrer Umwelt geistig überlegen fühlt. Sie ist sehr gebildet, intellektuell und stillt ihren Wissenshunger zum Beispiel mit Sartre. Sie will aus dem Hierarchiesystem ausbrechen, das ihr das Leben und die Schule aufzwingen.
Irgendwann kommt ein neuer Schüler in ihre Stufe, sein Name ist Alev. Bei ihm hat sie das Gefühl, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihr die Stirn bieten kann. Alev und Ada ticken ähnlich, sie reiben sich aneinander – und irgendwann verliebt sie sich in ihn.
Auf einer Klassenfahrt rettet Ada dann die Frau des Sportlehrers vor dem scheinbaren Suizid, weshalb ihr der Sportlehrer sehr dankbar ist. Alev kommt dabei auf die perfide Idee, dass Ada diese Dankbarkeit ausnutzen und den Lehrer verführen könnte. Aus Liebe zu Alev gibt sie sich seiner Idee hin und tut, was er verlangt. Dabei wirft sie all’ ihre Prinzipien und Ideale über Board…

Jonas:
Hast du für Ada auch eine gewisse Empathie entwickelt?

Michelle:
Als ich mich zum ersten Mal mit der Figur beschäftigt habe, war sie total weit weg von mir. Aber je länger ich die Rolle gespielt habe, desto mehr ist mir aufgefallen, wie sehr wir uns in bestimmten Dingen ähneln – zum Beispiel in dem Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Angefreundet haben Ada und ich uns allerdings nicht – ich glaube, Ada fände mich nicht besonders cool. Ich wäre ihr wahrscheinlich nicht hart genug.
Ada und ich haben uns übrigens sehr tragisch verabschiedet – am letzten Drehtag in Bonn. Ich stand abends auf einer Brücke über dem Rhein und habe ein Armband durchgeschnitten, das ich über die gesamte Drehzeit getragen hatte. Dieses Armband gehörte zur Figur Ada – ich habe es im Rhein versenkt.
Ich musste das einfach tun, weil mich die Rolle so eingenommen hatte, dass es echt schwer für mich war, wieder den Bogen zu mir selbst zu finden. Ich brauche zwar sonst keine Rituale im Leben, aber dieser symbolische Akt war mir wichtig.

Jonas:
Du bist danach auch recht bald nach Berlin umgezogen…

Michelle:
Ja, nach Spieltrieb war ich zum Drehen noch etwa einen Monat in Norwegen und bin dann im Oktober letzten Jahres nach Berlin gekommen. Irgendwie wollte ich ja nie in die Hauptstadt ziehen, aber es gab so einen Wink und ich wusste, dass in meinem Leben jetzt der nächste Schritt kommen musste.
Ich liebe meine Heimat ja total, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich gehen muss. Und da hatte sich Berlin zufällig angeboten. Ich kannte hier ja eh schon einige Leute.

Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich weg muss.

Jonas:
Anfang Januar hast du der Hauptstadt aber erst einmal wieder für vier Wochen den Rücken gekehrt und bist nach Thailand aufgebrochen.

Michelle:
Ja, es war so eine Aufbruchsstimmung in mir. Das neue Jahr fing an und ich hatte mich von vielem getrennt und vieles aufgegeben. Es veränderte sich gerade einfach viel um mich herum. Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich weg muss. So richtig weg.
Beim Dreh zu „Spieltrieb“ gab es einen Bühnenbauer, der immer so von Thailand geschwärmt hatte. Er meinte, dass man da unbedingt mal gewesen sein müsste in seinem Leben. Also ging es nach Thailand.
Es ist tatsächlich ein unglaublich schönes Land mit einer tollen Atmosphäre und einer atemberaubenden Landschaft. Man trifft auf seiner Reise so viele Gleichgesinnte, die aus den verschiedensten Ecken der Welt kommen.
Der größte Vorteil von Thailand ist aber, dass die Distanz zu Deutschland so groß ist, dass man sich in Ruhe die Frage stellen kann, wer man ist und wo man hin will.

Jonas:
Hast du dort die Antworten darauf gefunden?

Michelle:
Ja, absolut. Und ich habe dort auch endgültig den Entschluss gefasst, eine Schauspielschule zu besuchen. Momentan bewerbe ich mich in Berlin, Potsdam, Leipzig und Rostock. Ich bin gespannt, wo ich lande.

Jonas:
Fühlst du dich in Berlin mittlerweile zuhause?

Michelle:
Ich mag die Stadt, weil ich mich hier einfach frei fühle und viele Menschen um mich herum habe, die mir sehr ans Herz gewachsen sind.

Jonas:
Gibt es trotzdem noch andere Orte auf der Welt, an denen du mal leben willst?

Michelle:
Früher hatte ich immer den Traum, dass ich irgendwann mal mit einem VW Bulli quer durch Europa bis nach Griechenland fahren will, wo ich am Strand wohne, bis ich sterbe.
Heute will ich aber überall mal hin – aber idealerweise immer noch mit einem VW Bulli.

Michelles Augen werden groß und fangen an zu funkeln. Dabei malen die vielen kleinen Kerzen, die das Hotel so stimmungsvoll erleuchten, geheimnisvolle Figuren aus Licht und Schatten auf ihr Gesicht.

Für einen Moment verliert sie sich in ihren Gedanken. Die junge Schauspielerin scheint gerade irgendwo am Strand zu liegen. In Thailand. Oder Griechenland. Oder sonstwo auf der Welt.

Kurz vor Mitternacht ist es jetzt, wir brechen auf. Nur wenige Schritte sind es von hier bis zur Kottbusser Brücke, die sich über den tiefschwarzen Landwehrkanal streckt.

Langsam und lautlos bahnt sich das Wasser seinen Weg durch die Dunkelheit, nur begleitet von den Sternen und dem Mond.

Ich liebe die Nacht einfach, weil sie so unendlich frei ist.

Jonas:
Was für eine schöne Nacht.

Michelle:
Ja, die Nacht ist eigentlich der schönste Teil des gesamten Tages. Es ist irgendwie die Zeit, die man ganz in Ruhe verbringen kann.
Daher hat die Nacht für mich auch einen unglaublichen Zauber. Alles steht still. Und obwohl trotzdem an einigen Stellen das Leben pulsiert, findet man so viele Orte, an denen man total die Zeit vergessen kann.
Ich liebe die Nacht einfach, weil sie so unendlich frei ist. Leider geht sie immer viel schneller vorbei als der Tag. Aber das ist ja irgendwie bei allem Schönen so.

Wir laufen zurück zum Kottbusser Tor. Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um sich zu verabschieden.

Aber irgendwie finden wir alle, dass diese Reise noch nicht zu Ende sein kann, nicht zu Ende sein darf. Und so beschließen wir, in der „Luzia“ vorbeizuschauen. Ein riskantes Unterfangen – denn Samstagsabends platzt die Bar aus allen Nähten.

Egal, wir probieren es trotzdem. Und haben Glück: Vor kurzem erst wurde der Raucherbereich ausgebaut und zu einem Club innerhalb des Lokals umfunktioniert. Nicht Viele verirren sich in diesen kleinen Raum, in dem man sich abgeschottet vom Lärm der Außenwelt von feinen Elektroklängen beschallen lassen kann.

Und so schlagen wir uns vom Eingang durch die Massen bis zum Club durch, wo wir über eine Leiter eine kleine Nische erklimmen, die nur erhellt wird durch eine schwach flackernde Kerze. Schon wieder dieses Licht!

Wir lehnen uns zurück, lauschen der Musik und schauen uns schweigend an: Das Ziel der Reise scheint erreicht zu sein.

Ganz ohne Plan. Ganz ohne Kompass.

Es gibt Momente im Leben, da sollte man sich einfach treiben lassen und darauf vertrauen, dass alles gut wird.

Meistens hat man Glück.

Wie in dieser Nacht.