Interview — Bombay Bicycle Club

Wie heiße Schokolade

Die Fanpost mit den meisten Kilometern zwischen Band und Hörer kam für Bombay Bicycle Club von einem Soldaten aus Afghanistan. Mit Jack Steadman und Ed Nash reden wir über die Kraft, andere zu bewegen.

19. Januar 2014 — MYP No. 13 »Meine Sehnsucht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Es gibt Tage, die scheinen schon im Vorfeld alle Klischees vorwegzunehmen, die einem im Laufe des Lebens so zum Thema Britishness begegnet sind – wie etwa der heutige Dienstag, an dem wir in Berlin zwei junge Londoner Musiker zum Interview treffen sollen: Zur besten Tea Time, bei miesem Wetter und in einem Raum, der sich tatsächlich „Whiskey Room“ nennt.

Doch so lustig diese Plattitüden auch sein mögen: Spätestens im 21. Jahrhundert dürfte sich auch in nicht-urbanen Gegenden herumgesprochen haben, dass das Schubladendenken zu jenen Sportarten gehört, die eher einen Platz im olympischen Museum verdient hätten als noch offen praktiziert zu werden. Schließlich erwartet man auch nicht von uns, dass wir in Tracht und Lederhosen zum Gespräch erscheinen.

Aber Scherz beiseite. Die beiden Musiker, denen wir in wenigen Minuten zum ersten Mal begegnen werden, heißen Jack Steadman und Ed Nash. Gemeinsam mit ihren Weggefährten Jamie MacColl und Suren de Saram haben sie vor knapp neun Jahren die Band „Bombay Bicycle Club“ gegründet und erobern seitdem von London aus die Indie-Welt.

Verabredet sind wir im beliebten Michelberger Hotel am U-Bahnhof Warschauer Straße, das in den letzten Jahren diverse nationale wie internationale Musiker beherbergt hat. Über den Innenhof erreichen wir den „Whiskey Room“, der seinem klangvollen Namen tatsächlich alle Ehre macht: Schwere Clubsessel aus rotem Leder, dunkles Holz und stimmungsvolles Licht zaubern eine ideale Atmosphäre, um dem miesen Wetter zumindest für eine Stunde zu entfliehen.

In dieser kleinen Wohlfühl-Bastion erwarten uns Jack und Ed bereits. Kaum haben wir den Raum betreten, erheben sich die jungen Männer höflich und begrüßen uns. Nach wenigen Minuten haben wir unser Set aufgebaut und lassen uns gemeinsam auf den schweren, roten Clubsesseln nieder.

Jonas:
Jack, du bist in den letzten Jahren sehr viel gereist und warst unter anderem in Indien, Japan, Europa und der Türkei unterwegs. Hattest du das Bedürfnis, mal aus London auszubrechen und etwas Neues zu sehen?

Jack:
Ja, ich glaube, diese Beschreibung passt ganz gut. Zwar sind wir mit der Band in den letzten Jahren in viele Länder der Welt gereist, dabei hatten wir aber nicht die Möglichkeit, wirklich viel von den jeweiligen Städten und Ländern zu sehen. Wir waren eher ziemlich rastlos – kaum kamen wir von einem Auftritt nach London zurück, ging es auch wieder los in eine andere Stadt, in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent.
London selbst ist ja auch eine großartige Metropole mit toller Musikszene und Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Backgrounds. Da wir selbst aber in London aufgewachsen sind, haben wir einen zu persönlichen und eher alltäglichen Bezug zu dieser Stadt.
Doch gerade wenn es darum geht, neue Songtexte zu schreiben und sich musikalisch weiterzuentwickeln, gibt es nichts Besseres, als irgendwo hinzufahren, wo man vorher noch nicht war, und sich inspirieren zu lassen. Aktives Reisen ist dazu einfach ideal, das öffnet die Sinne – nicht nur für die Musik eines anderen Landes.

Jonas:
Was heißt aktives Reisen für dich? Warst du als Bagpacker unterwegs und hast dir jede Nacht eine andere Unterkunft gesucht?

Jack:
Oh nein, das wäre nicht ganz so mein Fall gewesen. Aber ich habe im Internet nach Leuten gesucht, die für einen längeren Zeitraum einzelne Zimmer oder Wohnungen vermieteten. So habe ich beispielsweise in der Türkei bei einer Familie gelebt, die mich so sehr ins Herz geschlossen hatte, dass ich dachte, ich sei von ihnen adoptiert worden. Diesen Menschen fühle ich mich nach wie vor sehr verbunden – und wir stehen immer noch in Kontakt. Ich empfinde es als ein riesiges Geschenk, eine derartige Erfahrung machen zu dürfen.

Jonas:
Am 7. Februar erscheint euer neues Album, das den Namen „So Long, See You Tomorrow“ tragen wird. Hatten Jacks Reisen der letzten Jahre einen gewissen Einfluss auf den Sound dieser neuen Platte?

Ed:
Ja, es gibt sogar einen sehr direkten und starken Einfluss der Reiseimpressionen und Erlebnisse, die Jack gesammelt hat. Das neue Album fühlt sich optimistischer an als unsere letzte Platte, ist pulsierender und dynamischer.
Vielleicht liegt es daran, dass man in anderen Ländern wie etwa Indien mit einem anderen Gefühl durch den Tag geht – in London kann man ja häufig stundenlang am Fenster sitzen und nichts anderes tun, als den Regen zu beobachten. Vor allem bei dem Song „Feel“ spürt man die indischen Einflüsse sehr deutlich.

Auch wenn sich ein neues Album immer sehr komplett anhört, sollte man trotzdem für sich selbst überprüfen, ob das gut und richtig ist, was man da tut.

Jonas:
Am Fenster sitzen und den Regen beobachten schürt ja meistens eine gewisse Sehnsucht. Ist dies ein Gefühl, das euch auch allgemein bei eurer Arbeit und eurer Musik begleitet?

Ed:
Ich glaube, Sehnsucht hat für uns eine ganz spezielle Bedeutung. Immer wenn man ein Album fertiggestellt hat, sollte man mit einer gewissen Sehnsucht bzw. dem Verlangen zurückgelassen werden, sich selbst und seine Kunst immer wieder in Frage zu stellen. Auch wenn sich ein neues Album immer sehr komplett anhört, sollte man trotzdem für sich selbst überprüfen, ob das gut und richtig ist, was man da tut – sonst läuft man sehr schnell Gefahr, stehenzubleiben und auf der Stelle zu treten. Unsere Sehnsucht ist es daher, immer weiterzugehen.
Und so bringt das neue Album auch eine Besonderheit mit sich: Wir haben es komplett alleine produziert – zum ersten Mal in unserer Bandgeschichte. Als die Idee dazu aufkam, waren wir zwar anfangs noch sehr unsicher und haben viel darüber diskutiert, dennoch haben wir uns letzten Endes dafür entschieden, weil in uns das Bedürfnis danach so groß war.

Während Ed spricht, pflichtet ihm Jack still und mit leichtem Kopfnicken bei. Dabei verlieren sich seine Augen im wolkenbehangenen Himmel, der sein graues Licht durch die große Fensterfront des „Whiskey Room“ wirft.

Doch obwohl uns nur eine dünne Glasscheibe von der ungemütlichen Welt da draußen trennt, fühlen wir uns in dem warmherzigen Ambiente des Raums mehr als wohlbehütet – vielleicht wegen der schweren roten Clubsessel, in die wir uns immer mehr verkriechen.

Jonas:
Ihr sagt von euch selbst, dass ihr seit Jahren auf der Suche nach eurem ganz eigenen Sound seid. Seid ihr mit dem neuen Album näher an diesen Sound herangekommen als je zuvor?

Jack:
Man weiß ja nie, wann der Zeitpunkt genau gekommen ist, dass man wirklich seinen ganz eigenen Sound gefunden hat. Das kann man immer nur rückblickend und mit einem gewissen inhaltlichen Abstand sagen.
Generell versuchen wir immer, mit einem neuen Album etwas ganz anderes als vorher zu machen. Trotz der Verschiedenheit unserer Songs und Alben sagen uns die Leute aber, dass es etwas gibt, das alle Werke verbindet. Das ist für uns ein Indiz, dass wir irgendwie auf dem richtigen Weg sind.
Wie Ed bereits gesagt hat: Für uns ist es wichtig, dass wir uns ständig weiterentwickeln – wir wollen ja nicht dasselbe Album zweimal machen. Immer wenn man an den Punkt kommt, an dem man sich mit allem rundum zufrieden fühlt, muss man sich dazu antreiben, weiterzumachen.

Jonas:
Wir haben eben über das miese Wetter in London gesprochen, das es übrigens in ähnlicher Art und Weise auch in Berlin gibt. Man könnte eure Musik deshalb mit heißer Schokolade vergleichen: das beste Mittel gegen graue Regentage. War es von Anfang an euer Ziel, Musik gegen englisches Wetter zu machen?

Ed:
Das ist ein sehr schönes Bild, aber diese Philosophie gab es nicht – übrigens auch keine andere. Wir starteten als Band, als wir alle etwa 15 Jahre alt waren. Damals hatten wir kein Handbuch für das, was wir tun. In der Anfangszeit dienten uns unsere Konzerte auch mehr als heimliche Entschuldigung, um unsere Freunde zu treffen und Freibier zu ergattern. Wir waren verdammt jung und hatten eine ziemlich aufregende Zeit. Ed lacht.
Aber im Ernst: Auch heute noch analysieren wir unsere Musik eher selten. Unsere Band hat sich im Laufe der Jahre sehr natürlich entwickelt – ähnlich wie unsere Songs. Bei denen wird immer erst im Nachhinein ersichtlich, welchen Weg ein Sound gegangen ist, bis daraus ein fertiger Track wurde.
Für mich selbst gibt es übrigens auch diese sogenannte „Heiße Schokoloade-Musik“: Wenn draußen typisches London-Wetter aufzieht, könnte ich stundenlang Billy Holiday hören.

Jonas:
Euch ist aber bewusst, dass ihr mit eurer Musik etwas geschaffen habt, das einen festen Platz im Herzen vieler Menschen einnimmt?

Jack:
Auch wenn wir darüber nicht jeden Tag nachdenken, ist uns das natürlich bewusst. Ab und zu erhalten wir von unseren Fans auch einen kleinen Reminder, der uns diese Tatsache wieder in Erinnerung ruft.
In den letzten Tagen habe ich zum Beispiel die Nachricht eines Soldaten erhalten, der zur Zeit in Afghanistan stationiert ist. Er schreibt, dass er immer eines unserer Alben hört, wenn er sich entspannen und aus allem ausklinken will. Das ist ein wunderbares Kompliment, das mich sehr berührt hat.
Aber auch ganz allgemein ist es uns sehr wichtig, den Kontakt zu unseren Fans zu halten und etwa nach den Konzerten am Merchandising-Stand das Gespräch zu suchen: Uns interessiert einfach, was die Leute zu sagen haben.

Jonas:
Das Jahr 2008 hat euch als Band einen entscheidenden Schritt nach vorne gebracht: Ihr habt eure Schule abgeschlossen, eure erste Single herausgebracht und einen Plattenvertrag bei Island Records unterzeichnet. Wie schwierig fiel euch damals die Entscheidung zwischen Musikkarriere und Uni?

Jack:
Ich glaube, das war für uns alle keine wirklich schwere Entscheidung. Zwar fingen alle unsere Freunde an zu studieren, aber wir wollten unbedingt Musik machen und den Weg weitergehen, den wir eingeschlagen hatten. Für mich persönlich war auch schon in frühen Jahren klar, dass ich Musiker werden will – lange bevor wir unsere Band gründeten.

Jonas:
Haben euch eure Familien und Freunde in dieser fundamentalen Entscheidung unterstützt?

Jack:
Ja, alle waren sehr begeistert und haben uns auf unserem Weg begleitet und unterstützt. Interessanterweise haben viele unserer Freunde mittlerweile ihr Studium abgeschlossen und wissen trotzdem nicht, was sie mit ihrem Leben anstellen sollen. Sie befinden sich erneut in einer Orientierungsphase, die wir längst hinter uns gelassen haben.

Jonas:
Vielleicht hören sie dabei ja zur Unterstützung Bombay Bicycle Club…

Jack (lacht):
Ja, wer weiß.

Jonas:
Das Artwork eures neuen Albums ist von der nahezu in Vergessenheit geratenen „Moving Photography“ inspiriert, die von dem britischen Fototechnik-Pionier Eadweard Muybridge Ende des 19. Jahrhunderts erfunden wurde. Mit seinem „Zoopraxiskop“ hat er per Serienaufnahmen Studien über den menschlichen und tierischen Bewegungsablauf angestellt. Wie seid ihr auf diese über 130 Jahre alte Technik aufmerksam geworden?

Jack:
Ich habe zufällig in der Zeitung eine seiner Fotoserien gesehen, diese ausgeschnitten und gleich der Band gezeigt. Ich hatte das Gefühl, dass diese Art und Weise der visuellen Darstellung unser neues Album sehr gut repräsentieren könnte.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns noch nicht wirklich Gedanken über die Gestaltung gemacht, aber irgendwie passte das ziemlich gut zu der musikalischen Leitidee der Platte, die mit vielen Loops und Repititions arbeitet. Außerdem greifen viele unserer Lyrics diese Idee der Wiederholung auf – und auch der Albumtitel „So Long, See You Tomorrow“ nimmt darauf Bezug. Somit ist das Artwork eine perfekte visuelle Klammer für das ganze Projekt.

Jonas:
Nachdem ihr nun zum ersten Mal ein Album komplett alleine produziert habt: Könntet ihr euch vorstellen, in Zukunft auch das Artwork alleine zu gestalten?

Ed:
Wir waren natürlich maßgeblich daran beteiligt, das Artwork zu konzipieren, weil wir viele Bilder und Impressionen im Kopf hatten, die in die Gestaltung irgendwie einfließen sollten. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, dass einer von uns so etwas persönlich umsetzen könnte. Dafür braucht man jemanden, der das professionell macht und über die entsprechenden Skills verfügt. Umso schöner ist es daher, dass das fertige Artwork ein toller Mix all’ unserer Ideen ist und die Kommunikation untereinander so gut funktioniert hat.

Wir lassen uns einfach treiben und sehen unsere Sound dabei zu, wie er sich weiterentwickelt.

Jonas:
Welche Pläne habt ihr für das neue Jahr – abgesehen von Konzerten und offiziellen Promotion-Terminen?

Jack:
Das Jahr 2014 ist schon jetzt ziemlich durchgetaktet, da bleibt wenig Luft. Musikalisch gesehen planen wir aber nicht wirklich etwas, wir lassen uns einfach treiben und sehen unsere Sound dabei zu, wie er sich weiterentwickelt. Das Gute ist ja: Von Album zu Album sieht man immer klarer.

Jack und Ed wenden ihre Köpfe nun beide zu der großen Fensterfront am Ende des Raumes und betrachten für einige Sekunden den Himmel, der wahrscheinlich gerade in London eine ähnlich dichte und graue Wolkendecke zu bieten hat. Dann drehen sie sich wieder zu uns, verabschieden sich und lassen uns in aller Ruhe das Set abbauen.

Wir verlassen den „Whiskey Room“ und werden draußen sogleich vom miesen Dezemberwetter mit einem kratzigen Hallo begrüßt. Mit einem Schlag wächst in uns die Sehnsucht nach einer Wohlfühl-Atmosphäre, wie wir sie in der letzten Stunde erleben durften.

Da hilft nur eines: nachhause fahren, Füße hochlegen und heiße Schokolade trinken.

Wie schön, dass es meistens die einfachen Dinge im Leben sind, die helfen.

Und wenn es keine heiße Schokolade gibt, kann man immer noch Bombay Bicycle Club hören – das hat mindestens die gleiche Wirkung.