Interview — Alexander Finkenwirth

Austausch

Vorhang auf für Alexander Finkenwirth. Der Theaterschauspieler fasst für uns zusammen, was seit allen Zeiten einen guten Künstler ausmacht, und nimmt uns mit hinter die Kulissen des Hans Otto Theaters in Potsdam.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Manchmal im Leben muss man einfach mal raus – und sei es nur für ein paar Stunden. Um durchzuatmen. Und abzuschalten. Oder um den Blick auf die Dinge zu justieren.

Für alltagsgeplagte Berliner empfiehlt sich in diesen Momenten ein Abstecher in Tarifzone C. Gerade einmal 40 Minuten benötigt die S7, um den Berliner Hauptbahnhof gegen den in Potsdam einzutauschen. Das One-Way-Ticket in die nahe Ferne gibt’s dabei für 3,10 Euro – schnell und günstig also. In diesen Zeiten muss man ja wirtschaftlich denken.

Auch wir verlassen heute mal Berlin und fahren raus nach Potsdam. Dort sind wir mit dem jungen Schauspieler Alexander Finkenwirth verabredet, den wir bereits wenige Wochen zuvor im Stück „Waisen“ erleben durften. Vor kurzem hat der 26jährige sein Schauspielstudium an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) „Konrad Wolf“ abgeschlossen und ist seit letztem Jahr festes Mitglied des Ensembles am Potsdamer Hans-Otto-Theater.

Es ist kurz vor halb zwei, gerade haben wir unseren Treffpunkt am Luisenplatz erreicht. Nur wenige Sekunden später biegt auch Alexander um die Ecke. Zielgerichtet kommt er auf uns zu und begrüßt uns freundlich. Der junge Mann strahlt eine bemerkenswerte Präsenz aus, wirkt aber gleichzeitig angenehm unaufdringlich. Seine wachen, klaren Augen werden umrahmt von einem markanten Gesicht, das heraussticht aus der Beliebigkeit der heutigen Zeit.

Wir wollen gemeinsam zu Mittag essen, also steuern wir gemeinsam das „My Keng“ in der Brandenburger Straße an. Das Lokal gehört zu den Lieblingsrestaurants von Alexander und platzt heute Mittag vor Gästen aus allen Nähten. Mit etwas Glück finden wir einen freien Tisch und bestellen munter aus der Speisekarte.

Jonas:
Du warst in den vergangenen Monaten vielfach im Theaterstück „Waisen“ zu sehen, wo du die Rolle des Marco gespielt hast. In dem Stück werden in zwei Stunden so ziemlich alle menschlichen Konflikte behandelt, die man aus dem eigenen Leben kennt. Ist das der Grund, warum du „Waisen“ vor kurzem als dein Lieblingsstück bezeichnet hast?

Alexander:
Ja, schon. Dieses Stück ist einfach richtig toll! Ich glaube aber, dass ich es vor allem deshalb so mag, weil mir die Figur des Marco im Laufe der Zeit etwas ans Herz gewachsen ist.
Das klingt im ersten Moment etwas abstrus, immerhin baut Marco ja ziemlich großen Mist und stellt total schlimme Sachen an. Aber der Typ macht das alles irgendwo ja nur, weil er geliebt werden will. Und er hat ständig das Gefühl, seine Familie beschützen zu müssen. Darum glaubt er auch, dass sein Handeln absolut richtig sei.
Ich kenne das Stück übrigens schon länger. Vor etwa zwei Jahren hatte ich es in einem Beiheft der „Theater heute“ entdeckt und während einer Zugfahrt komplett durchgelesen. Ich fand’s von Anfang an richtig cool – lange bevor ich überhaupt wusste, dass ich es mal spielen werde. Als dafür dann später irgendwann das Hans-Otto-Theater angefragt hat, war ich natürlich total begeistert.

Jonas:
Man ist ja bei der Figur so hin- und hergerissen: Soll man ihn jetzt mögen und Mitleid haben? Oder soll man ihn verurteilen?

Alexander:
Ja, da sagt auch jeder etwas anderes. Ich finde aber, dass man als Schauspieler die Figur immer mögen muss, die man spielt. Zumindest muss man ein gewisses Verständnis für sie entwickeln. Es geht ja darum, dass man in der Lage ist nachzuvollziehen, warum genau die Figur was tut.
Bei Proben merkt man allerdings ab und zu, dass es Kollegen gibt, die echte Probleme damit haben, ihre Figur zu mögen. Sie stellen sich dann ständig die Frage: „Wie kann man nur so sein, wie kann man so etwas nur machen?“ Mir hilft es enorm, mir immer wieder vor Augen zu führen, dass ich einen Mensch spiele. Und der handelt eben auch menschlich. Das erleichtert es, bis zu einem gewissen Grad ein Verständnis für die Figur aufzubauen.
Ganz allgemein ist das Gute an der Schauspielerei ja, dass es irgendwo nur ein Spiel ist, an das man ganz wertfrei herangehen kann. Es macht daher auch einfach Spaß, wenn man mal zum Beispiel einen Mörder spielen kann – weil man spürt, wie das Publikum dagegen innerlich eine Haltung aufbaut und Emotionen entstehen.

Jonas:
Wie merkst du denn genau, was das Publikum gerade fühlt?

Alexander:
Man kann das ja natürlich nicht messen. Aber ich bilde mir ein zu spüren, ob ein Publikum gerade emotional ganz nah dran ist oder nicht. Da findet eine Art Austausch statt, die sich über die Spannung im Raum von den Zuschauern unmittelbar auf uns Schauspieler überträgt. Und diese Unmittelbarkeit ist das Tolle an Theater.

Ich habe nach etwas gesucht, das das, was ich in mir trage, irgendwie nach außen transportieren kann.

Jonas:
Zur Schauspielerei bist du aber erst relativ spät gekommen…

Alexander:
Ja, das stimmt. Es gibt ja viele, die schon mit zwölf Jahren anfangen, über die Theater AG in der Schule oder irgendwo sonst zu schauspielern. Bei mir war das allerdings etwas anders. Ich hatte nach meinem Abi im Jahr 2006 absolut keine Ahnung, was ich machen will, und war durch diese Orientierungslosigkeit nicht besonders ausgeglichen und recht unglücklich. Ich wusste bloß, dass ich nicht das machen werde, was meine Freunde so machten – also etwa BWL oder Jura studieren. Das hatte ich zwar zwei Semester probiert, aber so wollte und konnte ich einfach nicht leben.
Also habe ich nach etwas gesucht, das das, was ich in mir trage, irgendwie nach außen transportieren kann. Eine Freundin hatte mich damals mal zu einer Laienschauspielgruppe mitgeschleppt, wo eine ehemalige Schauspielerin mit jungen Leuten gearbeitet hatte. Da habe ich gemerkt, dass ich das unbedingt machen will – und habe von heute auf morgen beschlossen: Ich werde Schauspieler!
Also habe ich radikal mein Leben geändert, plötzlich sehr diszipliniert gelebt und total viele Jobs gemacht, weil ich unbedingt nach Berlin ziehen wollte. Und dafür brauchte ich Geld.

Jonas:
Und wie hat deine Familie diesen Entschluss aufgefasst?

Alexander:
Mein Vater war im ersten Moment ziemlich erschrocken. Aber er hat dann recht schnell gemerkt, wie ernst mir die ganze Sache ist. Und dagegen konnte er nicht wirklich viel machen.
Mittlerweile hat er sich damit arrangiert – ich muss ihm immer die ganzen Kritiken schicken, die er alle lesen will.

Jonas:
Hattest du dich vor deinem Umzug nach Berlin schon an der HFF beworben?

Alexander:
Ne, ich bin erst nach Berlin und habe dann dort verschiedene Schauspielschulen abgeklappert. Das war total krass, weil ich absolut keine Erfahrung hatte und total naiv war. Ich dachte, ich geh’ da jetzt hin und die nehmen mich. So einfach war’s aber nicht. Daher bin ich auch echt froh, dass es letztendlich an der HFF geklappt hat.

Jonas:
Und seit 2012 bist du festes Ensemblemitglied am Hans-Otto-Theater!

Alexander:
Ja, nach sechs Semestern, also kurz vor meinen Abschluss. Ich hatte vorher schon öfter dort gespielt und mich dann irgendwann beworben. Das kam alles Stück für Stück.

Wir legen eine kurze Pause ein, das Essen wird serviert. Ein seltsam vertrautes Gefühl der Zufriedenheit stellt sich gerade ein – nicht nur wegen der aromatischen Leckereien auf unseren Tellern.

Während man Alexanders Antworten und Erzählungen lauscht, hängt man gespannt an seinen Lippen und stellt unweigerlich einen Bezug zum eigenen Leben her. Und obwohl wir gemeinsam an diesem kleinen Tisch sitzen, wirkt es für einen Augenblick so, als seien wir das Publikum. Und er stünde vor uns auf der Bühne.

Ich habe im Laufe der letzten Jahre gelernt, dass ich echt ein bisschen auf mich aufpassen muss.

Jonas:
Du hattest in den letzten Jahren gleich zwei große Bezugspunkte – auf der einen Seite die HFF, auf der anderen Seite das Hans-Otto-Theater. Wie problematisch war es denn, ständig am Theater zu spielen und gleichzeitig irgendwie das Studium an der HFF zu absolvieren?

Alexander:
Naja, als es am Theater richtig los ging, war ich eigentlich kaum noch an der Uni. Die HFF hat ziemlich viel Rücksicht darauf genommen, dass ich quasi schon ein Engagement am Theater habe. Es ist ja auch in deren Interesse, dass ihre Schauspieler möglichst schnell einen Job bekommen.
Alles in allem hat das gut geklappt – obwohl es von der Belastung natürlich krass war. Irgendwann kommt man an den Punkt, wo man denkt: Jetzt geht es gerade gar nicht mehr, weil ab einem gewissen Grad der Erschöpfung auch die Kreativität flöten geht. Ich habe Gott sei Dank im Laufe der letzten Jahre gelernt, dass ich echt ein bisschen auf mich aufpassen muss.

Jonas:
Glaubst du, dass die Gefahr besteht, dass man sich selbst vergisst, wenn man zu viel tut?

Alexander:
Ja. Im Herbst zum Beispiel hatte ich das Gefühl, dass ich körperlich an meine Grenzen stoße. Damals haben sich die Proben zu unserem Abschlussfilm an der HFF mit den Proben zum Stück „Der Eisvogel“ am Theater überschnitten – und bei beiden hatte ich eine intensive und fordernde Rolle: Im Film war ich einer der Amokläufer und im Eisvogel habe ich die Figur des Wiggo übernommen, der ein superkrasser Charakter ist.
Diese Figur ist auch insgesamt drei Stunden am Stück auf der Bühne präsent, das hat unendlich viel Energie gekostet. Trotzdem war das natürlich eine gigantische Erfahrung.

Jonas:
Was macht den Charakter des Wiggo denn so besonders?

Alexander:
Wiggo ist ein junger Mann, der zwischen Nizza und London aufgewachsen ist und Philosophie studiert hat. Er stammt aus einer äußerst wohlhabenden Familie und ist in seinem Beruf sehr erfolgreich. Aber Wiggo ist auch ein Rebell: Er stellt vieles in Frage und will mit der Welt seiner Eltern nichts zu tun haben – dort erscheint ihm alles zu zynisch und oberflächlich.
Ein wenig erinnert sein Charakter an Faust, weil er in gewisser Weise auch herausfinden will, was die Welt zusammenhält. Dabei rutscht er ab und kommt mit einer rechten Terrorzelle in Berührung, die irgendwie die ganze Demokratie anzweifelt – ein ziemlich aktuelles und wichtiges Thema.

Jonas:
Ist es dir wichtig, durch deine Rollen einen Bogen zur Realität spannen zu können?

Alexander:
Ja, das ist mir total wichtig, egal ob es um einen eher familiären, privaten Bezug geht wie in „Waisen“ oder um einen eher politischen wie in „Der Eisvogel“. Das sind einfach Problematiken, die mich persönlich auch sehr interessieren und berühren. Ich glaube, dass ich als Mensch eh recht kritisch bin mit dem, was so um mich rum und in der Gesellschaft passiert.
Generell bin ich für alle Themen aber total offen. Ich mag es wirklich sehr an meinem Beruf, dass man sich in so viele verschiedene Thematiken und Problematiken stürzen kann. Wichtig ist dabei nur immer, dass es irgendetwas auslöst beim Zuschauer. Denn dafür macht man’s ja auch.

Wir zahlen und brechen auf. Um 15.00 Uhr sind wir am Hans-Otto-Theater mit Stefanie Eue verabredet, der Presseverantwortlichen des Hauses. Sie hat uns einen kleinen Rundgang durch das Theater mit Blick hinter die Kulissen angeboten, um geeignete Orte für das Shooting mit Alexander zu finden. Dieses Angebot nehmen wir natürlich gerne an und steigen in die Straßenbahn Richtung Schiffbauergasse.

Wenig später erreichen wir unser Ziel. Das imposante Theatergebäude liegt direkt am Tiefen See. Was für eine Aussicht! Was für eine Ruhe!

Stefanie empfängt uns am Künstlereingang und führt uns gemeinsam durch das Haus: Garderobe, Maske, Requisite, Technik – ein Theater hinter den Kulissen.

Während wir gemütlich durch das Hans-Otto-Theater laufen und Raum für Raum entdecken, schießen wir immer wieder mal ein Foto von dem jungen Schauspieler, probieren Einstellungen aus, portraitieren, halten fest.

Dieser Austausch zwischen Bühne und Publikum erzeugt eben eine ganz besondere Energie.

Jonas:
Machst du eigentlich lieber Theater als Film, weil du dort die Wirkung auf das Publikum viel intensiver und direkter wahrnehmen kannst?

Alexander:
Ne, ich mag ehrlich gesagt beides. Durch meine Ausbildung an der HFF habe ich das Drehen ebenfalls total schätzen gelernt und würde gerne zukünftig auch in beiden Richtungen arbeiten können.
Trotzdem ist natürlich die Situation am Theater eine ganz Besondere, das stimmt. Dieser Austausch zwischen Bühne und Publikum erzeugt eben eine ganz besondere Energie.

Jonas:
Seit kurzem gibt es ein neues Stück, in dem du mitwirkst: „Torquato Tasso“ von Goethe. Worum geht es?

Alexander:
In dem Stück geht es um die Stellung des Dichters in der höfischen Gesellschaft – im übertragenen Sinne also um die Position des Künstlers in der Gesellschaft allgemein. Goethe selbst bezeichnet das als die Disproportion des Talents mit dem Leben.

Jonas:
Das klingt sehr zeitlos.

Alexander:
Ja, absolut. Zwar ist die Sprache des Stücks nicht mehr wirklich zeitgemäß und wird etwas anstrengend über die zwei Stunden, aber der Inhalt ist nach wie vor hochaktuell.

Jonas:
Findest du, dass der Beruf des Schauspielers mehr Anerkennung finden sollte in der Gesellschaft?

Alexander:
Ja, das sollte er auf jeden Fall. Viele Menschen assoziieren diesen Beruf ja mit wenig Arbeit, üppigen Gehältern und einem eher schillernden Leben im Rampenlicht.
Dabei sieht die Realität ganz anders aus: Die meisten verdienen eher bescheiden und stehen auch nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Trotzdem opfern sie ihr Leben für diesen Beruf auf und arbeiten hart, um ein guter Schauspieler zu sein.

Jonas:
Was macht denn einen guten Schauspieler aus?

Alexander:
Dasselbe, was ganz allgemein auch einen guten Künstler ausmacht: Er kritisiert Missverhältnisse und stellt der Gesellschaft Fragen. Dabei steht er immer etwas abseits der Normalität, betrachtet die Dinge aus der Distanz und aus einem anderen Blickwinkel.

Ich habe nicht das Problem, dass ich nach dem Theater nach Hause komme und denke, dass ich jemand anderes bin.

Jonas:
Hast du das Gefühl, dass deine Rollen dich selbst in gewisser Weise verändern, etwas in dir auslösen und dir Fragen stellen?

Alexander:
Naja, es passiert schon häufiger mal, dass man die Rolle mit nach Hause nimmt und gar nicht so richtig abstreifen kann. Das ist vor allem in der Probenzeit so, weil man sich da intensiv mit dem Charakter seiner Figur auseinandersetzt und stundenlang in ein komplett anderes Leben denken muss.
Wenn man dann abends zuhause sitzt, merkt man, dass man sich schon noch damit beschäftigt und auch irgendwie mitgenommen ist – man war ja schließlich den ganzen Tag in diesem anderen Leben unterwegs.
Menschlich verändert man sich natürlich auch mit der Zeit – das hat aber weniger mit dem Inhalt der Rolle zu tun. Vielmehr ist es eine persönliche Weiterentwicklung, weil man durch das Spielen eine gewisse Erfahrung ansammelt.
Daher habe ich jetzt nicht das Problem, dass ich nach dem Theater nach Hause komme und denke, dass ich jemand anderes bin. Ich bin Alexander Finkenwirth, und das bleibe ich auch.

Im Foyer des Hans-Otto-Theaters endet unser Rundgang. Hier in dem hellen und lichtdurchfluteten Raum entstehen die letzten Fotos des Tages.

Wir bedanken uns bei Stefanie Eue, verabschieden uns und begleiten Alexander noch zur Straßenbahn-Station, wo sich unsere Wege trennen.

Unser Ausbruch aus dem Alltag neigt sich dem Ende zu, es geht zurück nach Berlin. Durchatmen konnten wir heute. Und abschalten.

Manchmal im Leben muss man einfach mal raus – und sei es nur für ein paar Stunden. Um den Blick wieder zu justieren. Und Antworten zu finden.

Dazu muss man nur nach Potsdam fahren.

Oder ins Theater gehen.